VG Würzburg, Urteil vom 17.11.2015
Aktenzeichen W 2 K 14.30213

Stichpunkte

Hochinteressantes Urteil im Verwaltungsgerichtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung für nigerianisches Menschenhandelsopfer; Gericht erkennt Flüchtlingseigenschaft zu; sehr umfangreiche Ausführungen zur Vorgehensweise der Menschenhändler*innen und den Voodoo-Praktiken in Nigeria; Auswertung verschiedener Berichte zur Lage in Nigeria; Auseinandersetzung mit Rechtsprechung zur Frage, ob rückkehrende Menschenhandelsopfer soziale Gruppe darstellen; Gericht bejaht unter Verweis auf UNHCR-Richtlinie

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einer Nigerianerin, die in Italien Opfer von Menschenhändler*innen geworden war, die Flüchtlingseigenschaft zu. Die Frau war 2013 nach Deutschland gekommen und hatte sich an eine Fachberatungsstelle gewandt. Sie gab an, von einer Menschenhändlerin, Frau M., unter falschen Versprechungen im Alter von 17 Jahren aus Nigeria nach Italien gebracht und dort zwei Jahre lang zur Prostitution gezwungen worden zu sein, um Schulden in Höhe von 40.000 Euro für die Schleusung abzuarbeiten. Noch in Nigeria hatte sie sich einem Voodoo-Verfahren (Juju-Ritual) unterziehen müssen. Dies verpflichtete sie ihrer Meinung nach gegenüber der Frau M.. In Italien war sie schwanger geworden und sollte zur Abtreibung gezwungen werden. Ihr gelang jedoch die Flucht nach Deutschland. Die Polizei nahm daraufhin Ermittlungen wegen Menschenhandels auf, in denen die Klägerin als Zeugin aussagte, Täter*innen konnten jedoch nicht ermittelt werden. 2014 beantragte die Frau Asyl für sich und ihre zwischenzeitlich geborene Tochter. Nach Nigeria könne sie nicht zurück, da sie dort von den Menschenhändler*innenkreisen verfolgt würde. Frau M. verfüge über Kontakte nach Nigeria und würde sie dort finden. Ihre Eltern seien gestorben und sie habe keinen Beruf. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erkannte ihr und ihrer Tochter subsidiären Schutz zu. Sie sei zweifellos in Italien Opfer von Menschenhandel geworden, weswegen ihr in Nigeria Verfolgung drohe. Ein Flüchtlingsstatus wurde jedoch nicht zuerkannt, da die ihr drohende Verfolgung nicht an die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nummer 4  Asylgesetz anknüpfe.

 

Die Frau erhob Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das Bundesamt legte in seiner Klageerwiderung eine Mitteilung des Bundeskriminalamtes vor, nach dem die Fingerabdrücke der Klägerin einer Frau mit anderen Personalien und kongolesischer Staatsbürgerschaft zugeordnet waren. Das VG spricht der Frau die Flüchtlingsanerkennung zu, da ihr nach Ansicht des Gerichts sehr wohl eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe drohe.

Zunächst macht das Gericht umfassende, auf verschiedene Berichte und Rechtsprechung gestützte Ausführungen zur Vorgehensweise der Menschenhändler*innen in Nigeria und der Anwendung von Voodoo- bzw. Juju-Ritualen zur Manipulation und Einschüchterung der Opfer (S. 8 f.). Demnach schließen sogenannte Madames mit den Opfern Auswanderungsverträge, nach denen die Opfer den Madames einen, die tatsächlichen Kosten weit übersteigenden, Betrag schulden. Diese Verträge werden mit einem Voodoo-Priester durch ein Ritual bekräftigt. Bei Verstößen drohen den Opfern und auch deren Angehörigen in Nigeria Vergeltung.

Das Gericht hielt die Angaben der Klägerin aufgrund dieser Erkenntnisse für glaubhaft. Der Umstand, dass die Fingerabdrücke der Klägerin unter anderen Personalien geführt würden, spräche nicht gegen ihre Glaubwürdigkeit. Zum einen hatte die Klägerin erklärt, dass die M. diese Angelegenheiten für sie erledigt hätte, zum anderen entspräche es der Vorgehensweise der Menschenhändler*innen, die Opfer unter Verwendung von Ausweisen von ihnen ähnelnden Personen, die sich bereits mit Aufenthaltstiteln im Zielland befänden, einzuschleusen.

Das Gericht setzt sich mit der einschlägigen Rechtsprechung zur Frage der Einordnung rückkehrender Menschenhandelsopfer als soziale Gruppe auseinander (S. 12 f.) Es legt dar, warum es nicht die Ansicht des VG Gelsenkirchen (Urteil vom 15.03.2013) teilt, dass die Verfolgung allein auf einer individuellen Täter*in- Opfer- Beziehung beruht und nicht auf der Gruppenzugehörigkeit.

Das VG schließt sich der Rechtsprechung des VG Stuttgart (Urteil vom 16.05.2014) und VG Wiesbaden (Urteil vom 14.03.2011) an, dass nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind und sich hieraus befreit haben, eine bestimmte soziale Gruppe bilden. Sie würden von den Täter*innenkreisen verfolgt werden und Gefahr laufen, erneut Opfer von Menschenhandel zu werden. Zudem würden sie von ihren Familien und dem sozialen Umfeld diskriminiert. Diese Ansicht entspräche auch den Richtlinien des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees – Richtlinien zum Schutz von Opfern von Menschenhandel und entsprechend gefährdeter Personen vom 7. April 2006).

 

Das Gericht führt unter Verweis auf Berichte des Auswärtigen Amtes zur Lage in Nigeria von 2014 aus, dass vor Verfolgung durch die Menschenhändler*innenkreise und Diskriminierung durch Familie oder Umfeld kein staatlicher Schutz zu erlangen sei. Bislang ergriffene staatliche Maßnahmen gegen Menschenhandel, wie die Einrichtung einer nationalen Agentur zur Verhinderung von Menschenhandel, seien noch sehr unzureichend. Frauen würde aufgrund von Diskriminierung noch weniger Schutz zuteil als anderen Kriminalitätsopfern, sie würden eher noch Opfer von Übergriffen durch Polizei und Sicherheitskräfte. Grundsätzlich würden rückkehrende Menschenhandelsopfer als Prostituierte stigmatisiert und hätten keinerlei Unterstützung zu erwarten. Innerstaatliche Fluchtalternativen kämen für die Klägerin, die inzwischen drei Kinder hat und ohne Berufsausbildung ist, ebenfalls nicht in Betracht.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_wuerzburg_17_11_2017 (PDF, 157 KB, nicht barrierefrei)

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