EuGH, Beschluss vom 15.2.2023
Aktenzeichen C-484/22

Stichpunkte

Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; wichtiger Beschluss zur Auslegung von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie); das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen sind bereits im Rahmen eines zur Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), dass Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG Teilen der bisherigen deutschen Rechtsprechung entgegenstehen, nach welcher das Kindeswohl und familiäre Bindungen erst beim Vollzug der Abschiebung durch die Ausländerbehörden zu berücksichtigen sind. Nach dem EuGH sind das Kindeswohl und familiäre Bindungen bereits im Rahmen des Erlasses der Rückkehrentscheidung einzubeziehen.

Der Kläger im Ausgangsverfahren ist ein 2018 in Deutschland geborener Nigerianer. Für seinen Vater und eine Schwester stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ein Abschiebungsverbot fest und erteilte eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Die Asylanträge seiner Mutter und seiner anderen Schwester wurden dagegen als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Im Jahr 2019 wurde der Antrag des Klägers auf Asyl ebenfalls abgelehnt und ihm wurde die Abschiebung nach Nigeria mit Einräumung einer freiwilligen Ausreisefrist von 30 Tagen angedroht.

Mit einer Klage gegen den Abschiebungsbescheid beim Verwaltungsgericht (VG) wurde die Abschiebungsandrohung aufgehoben. Das VG begründete sein Urteil zur Aufhebung der Abschiebungsandrohung damit, dass die Ausweisung des Klägers mit dem Recht auf Familienleben, welches sowohl in der europäischen Grundrechtecharta als auch in Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verankert ist, nicht vereinbar sei, da dem Kläger eine Trennung von seinem Vater nicht zuzumuten sei.

Gegen die Aufhebung der Abschiebungsandrohung legte die Bundesrepublik Deutschland (BRD) eine auf Rechtsfragen beschränkte Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) ein. Sie war der Ansicht, dass das Wohl des Kindes und die Achtung der familiären Bindungen nicht bereits im ersten Stadium des Verfahrens betreffend den Erlass der Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebungsandrohung zu beachten seien, sondern erst im späteren Verfahren beim Vollzug der Abschiebung. Für das Verfahren betreffend den Erlass der Abschiebungsandrohung ist das BAMF zuständig, für das nachfolgende, den Vollzug der Abschiebung betreffende Verfahren, die Ausländerbehörden in den Bundesländen.

Das BVerwG hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 5 Buchst. a und b der sog. Rückführungsrichtlinie. Der EuGH sollte klarstellen, ob Art. 5 dahingehend auszulegen ist, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen schon beim Verfahren bezüglich der Rückkehrentscheidung zu schützen, oder ob es genügt, wenn diese Grund- und Menschenrechte später beim Verfahren zum Vollzug dieser Rückkehrentscheidung berücksichtigt werden.

Der EuGH verweist auf den Zweck von Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie: die Wahrung mehrerer Grundrechte des Kindes (Art. 24 EU-Grundrechtecharta, Art. 8 EMRK) zu gewährleisten. Daher darf der Art. 5 der Richtlinie nicht zu eng ausgelegt werden. Nach dem Zweck und Wortlaut dieser Normen und der Richtlinie sind das Wohl des Kindes sowie die familiären Bindungen in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen. Das bedeutet für alle Mitgliedstaaten, dass eine Rückkehrentscheidung gar nicht erst erlassen werden darf, ohne diese, von den Betroffenen geltend gemachten Rechte und Aspekte einzubeziehen. Konkret müssen die Behörden in Deutschland vielmehr und schon vor dem Erlass einer Rückkehrentscheidung auf die Situation der Minderjährigen umfassend eingehen und das Wohl des Kindes berücksichtigen.

Die bisherige Rechtslage in Deutschland hierzu verstößt demnach gegen das Unionsrecht, insb. gegen Grundrechte. Das Wohl des Kindes und die familiäre Situation sind bei Erlass einer Rückkehrentscheidung und der Vollstreckung der Abschiebung zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass das BAMF beim Erlass der Rückkehrentscheidung auch inlandsbezogene Abschiebungsverbote prüfen muss.

 

Entscheidung im Volltext:

eugh_15_02_2023 (PDF, 582,78 KB, nicht barrierefrei)

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