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EuGH, Urteil vom 3.6.2025
Aktenzeichen C‑460/23 (Kinsa)

Stichpunkte

Beihilfe zur unerlaubten Einreise; familiäre Verantwortung; minderjährige Kinder; Auslegung der Richtlinie 2002/90/EG; Artikel 7 und 24 der EU-Grundrechtecharta; Kindeswohl; Rechte der Kinder; Achtung des Familienlebens; Asylverfahren; Strafbarkeit

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt fest, dass eine Person, die in Ausübung ihrer familiären Verantwortung ihre minderjährigen Kinder oder Verwandten in die Europäische Union bringt, nicht wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise gemäß der Richtlinie 2002/90/EG zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt bestraft werden kann. Eine solche Auslegung sei mit der Achtung des Familienlebens (Art. 7 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC)) und den Rechten des Kindes (Art. 24 GRC) unvereinbar.

Die Klägerin, eine kongolesische Staatsangehörige, reiste im August 2019 auf dem Luftweg nach Italien ein. Sie begleitete dabei ihre minderjährige Tochter und die minderjährige Nichte ihres Ehemanns. Die Einreise erfolgte unter Verwendung gefälschter Reisedokumente, mit denen die Kinder als ihre eigenen ausgegeben wurden. Ziel war es, ein gemeinsames Asylverfahren zu erreichen und die Kinder nicht in einem unsicheren Drittstaat zurückzulassen. Die italienischen Behörden leiteten ein Strafverfahren gegen die Frau wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise ein.

In diesem Zusammenhang ersuchte ein italienisches Gericht den EuGH um Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen. Zentral ging es um Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90/EG. Danach soll jede vorsätzliche Hilfe bei der rechtswidrigen Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats strafbar sein.

Fraglich war, ob dieses strafrechtliche Verbot auch Handlungen umfasst, die der Ausübung elterlicher Sorge und familiärer Verantwortung dienen – insbesondere, wenn die betreffende Person mit ihren eigenen oder verwandten minderjährigen Kindern einreist und selbst einen Antrag auf internationalen Schutz stellt.

Vorrang der Grundrechte

Der EuGH verneinte die Strafbarkeit in dieser Konstellation. Er führt insbesondere aus, dass die Richtlinie 2002/90/EG den Mitgliedstaaten zwar die Kriminalisierung von Handlungen zur Erleichterung unerlaubter Einreisen erlaube. Doch diese Befugnis dürfe nicht so weit verstanden werden, dass sie elterliche oder vergleichbare Sorgehandlungen umfasst, die dem Schutz von Kindern dienen. Eine Strafverfolgung wegen familiärer Einreisebegleitung würde einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens (Art. 7 GRC) und die Rechte der Kinder (Art. 24 GRC) bedeuten und verkennen, dass die Begleitung Ausdruck der Sorgeverantwortung sei.

Konsequenz für nationales Strafrecht

Die Mitgliedstaaten dürfen nationale Strafnormen nicht in einer Weise anwenden, die mit den grundrechtlichen Vorgaben des Unionsrechts unvereinbar ist. Eine Anwendung des italienischen Strafrechts auf diesen Fall wäre daher europarechtswidrig.

Die Begleitung und Mitnahme von minderjährigen Kindern durch eine sorgeverpflichtete Person darf also nach der Rechtsprechung des EuGH nicht als Beihilfe zur unerlaubten Einreise kriminalisiert werden, wenn dies zur Ausübung familiärer Verantwortung geschieht. Eine gegenteilige Auslegung würde fundamentale Rechte aus der EU-Grundrechtecharta verletzen.

Die Entscheidung hat auch Bedeutung für Deutschland, da auch hier die Hilfeleistung zur unerlaubten Einreise strafbar sein kann. Die Entscheidung schützt insbesondere Personen mit Sorgepflichten und minderjährige Begleitpersonen vor Kriminalisierung.

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_30_06_2025 (PDF, 367 KB, nicht barrierefrei)