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EuGH, Urteil vom 1.8.2025
Aktenzeichen C-758/24 und C-759/24 (Alace und Canpelli)

Stichpunkte

Wichtige Entscheidung zu den Anforderungen an eine nationale Regelung im Hinblick auf die Bestimmung eines Staates als „sicherer Herkunftsstaat“; Beschleunigte Grenzverfahren; Rechtsschutz für Personen aus „sicheren Herkunftsstaaten“; Auslegung von Art. 36 und 37 sowie Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU und Art. 47 der EU-Grundrechtscharta (GRCh)

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) bestätigt, dass ein Mitgliedstaat zwar durch Gesetze einen Drittstaat als „sicheren Herkunftsstaat“ bestimmen darf. Diese Bestimmung muss aber gerichtlich überprüfbar sein. Das setzt voraus, dass die Regierung transparent die Informationsquellen veröffentlicht, die sie für diese Bestimmung heranzieht.

Zwei Antragsteller aus Bangladesch (LC und CP) wurden nach ihrer Seenotrettung von Italien nach Albanien verbracht und inhaftiert. Dort stellten sie Anträge auf internationalen Schutz. Die italienischen Behörden lehnten ihre Anträge im beschleunigten Verfahren an der Grenze als offensichtlich unbegründet ab, mit der Begründung, dass Bangladesch als sicherer Herkunftsstaat gelte. Hintergrund ist, dass Asylanträge von Personen aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat leichter und schneller abgelehnt werden können. Die Antragsteller reichten eine Klage gegen die Ablehnung ihrer Anträge in Rom ein.

In diesem Zusammenhang ersuchte das italienische Gericht den EuGH um Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmungen. Zentral ging es um Art. 36 und 37 sowie Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32/EU, wonach im Rahmen des gemeinsamen Verfahrens für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes bestimmte Drittstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“ bestimmt werden können.
Fraglich war, ob die Bestimmung eines Drittstaats als „sicherer Herkunftsstaat“ per Gesetzgebungsakt erfolgen darf und ob die Behörden alle Informationsquellen für solche Bestimmung transparent zur Verfügung stellen müssen. Darüber hinaus fragte das Gericht, ob die nationalen Gerichte eigene Quellen für die Überprüfung heranziehen dürfen. In Italien werden „sichere Herkunftsstaaten“ durch das Gesetzesdekret Nr. 158/2024 festgelegt, ohne dass konkrete Angaben zu den Informationen oder Quellen gemacht werden, die für die Einstufung eines Landes – in diesem Fall Bangladesch – als „sicher“ zugrunde gelegt wurden.

Wirksame gerichtliche Überprüfung notwendig
Der EuGH bestätigt, dass die Richtlinie 2013/32/EU es den Mitgliedstaaten erlaubt, durch ein Gesetz einige Drittstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“ zu bestimmen. Die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz darf dann in einem beschleunigten Verfahren an der Grenze durchgeführt werden, wenn die Anträge durch Angehörige aus diesen als sicher eingestuften Herkunftsstaaten gestellt werden. Jedoch müsse der in Art. 47 der GRCh verankerte Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes garantiert werden. Das heißt, nationale Gerichte, die in einem Verfahren über internationalen Schutz entscheiden, müssen die Bestimmung eines „sicheren Herkunftsstaats“ in ihrer Entscheidung materiell überprüfen können. Sie müssen prüfen können, ob im Herkunftsland tatsächlich keine generelle oder durchgängige Gefahr der Verfolgung, Folter etc. besteht.
Zur Überprüfung dürfen Gerichte auch eigene Informationen und Quellen heranziehen.

Der EuGH mach klar, dass auch Antragstellende Zugang zu den Informationsquellen haben müssen, auf denen die Bestimmung eines sicheren Herkunftsstaates basiert. Sie müssen erfahren können, warum ihr Herkunftsland als sicher eingestuft wird, damit sie die Vermutung von Sicherheit widerlegen und abwägen können, ob Rechtsmittel gegen die Entscheidung sinnvoll erscheinen.

Im diesem Fall darf das italienische Gericht überprüfen, ob Bangladesch für beide Antragstellende tatsächlich sicher ist und anhand dessen über ihre Anträge auf internationalen Schutz entscheiden.

Zudem entschied der EuGH, dass es nicht genügt, wenn der Staat für manche Personengruppen sicher ist und für andere, wie etwa homosexuelle oder queere Menschen, nicht. Nur wenn der Staat allen einen ausreichenden Schutz biete, darf er als sicher eingestuft werden, so der EuGH. Dies gilt allerdings nur vorläufig, bis zum Inkrafttreten der beschlossenen Regeln für das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Diese lassen in der neuen EU-Asylverfahrensverordnung in Art. 61 Abs. 2 die Bestimmung eines „sicheren Herkunftsstaat“ mit Ausnahmen für bestimmte Personengruppen und Teilregionen zu. Diese Regeln müssen bis Juni 2026 in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden.
 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_01_08_2025.pdf (PDF, 348 KB, nicht barrierefrei)