VG Stuttgart, Urteil as of 12/3/2021
Aktenzeichen A 11 K2160/19

Key issues

Positive Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für von Zwangsheirat betroffene Iranerin; umfassende Ausführungen zu geschlechtsspezifischer Verfolgung, zur Situation der Frauen im Iran, insbesondere Zwangsverheiratung, Ehrenmorde und patriarchisch geprägten Familienstrukturen; Lage alleinstehender Frauen in Pandemie-Situation

Summary

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht der Klägerin einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu.

Die Klägerin ist iranische Staatsangehörige. Sie ist 2018 nach Deutschland gekommen und hat einen Asylantrag gestellt. In ihrer Anhörung gab sie an, im Alter von 14 Jahren mit ihrem elf Jahre älteren Cousin zwangsverheiratet worden zu sein. Mit diesem habe sie
2 Kinder. Als ihr Cousin sich eine andere Frau genommen habe, habe sie sich wegen der Familienehre nicht scheiden lassen dürfen. Sie sei von ihrem Cousin und ihrer Familie geschlagen worden. Nachdem ihr Cousin sich doch von ihr scheiden gelassen habe, sei sie wieder gegen ihren Willen mit einem anderen Mann verheiratet worden. Auch diese Ehe sei schwierig gewesen, denn dieser Mann habe ebenfalls eine andere Frau gehabt, aber wieder sei ihr eine Scheidung nicht erlaubt worden. Erst als der Mann ins Gefängnis kam, habe sie sich scheiden lassen können und auch das Sorgerecht für ihre Tochter aus dieser Ehe erhalten. Ein Onkel habe sie unterstützt.

Sie habe bereits vor der zweiten Ehe ihren jetzigen Mann kennengelernt, der aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen sei. Diesen habe sie vom Iran aus geheiratet und sei nach Deutschland geflohen. Der Versuch, ihre Tochter mitzunehmen, sei gescheitert. Ihre Familie sei wütend auf sie, versuche ihren Aufenthaltsort zu erfahren und dürfe nicht wissen, dass sie in Deutschland sei.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Asylantrag ab. Die Klägerin könne im Iran staatlichen Schutz gegen ihre Familie in Anspruch nehmen oder sich in einem anderen Landesteil niederlassen.

Im Hauptverfahren erklärte die Klägerin mit Unterstützung des Fraueninformationszentrums (FIZ) ergänzend, vor ihrer Ausreise aus dem Iran sei die Situation eskaliert, da ihre Familie von ihrer außerehelichen Beziehung zu ihrem jetzigen Ehemann erfahren habe. Ihr Vater habe sie geschlagen und einige Tage später mit Benzin übergossen und anzünden wollen, was nur durch Einschreiten ihrer Mutter verhindert worden sei. Ihre Familie werfe ihr Ehebruch vor. Sie sei deshalb zu ihrem Onkel und dann nach Deutschland geflohen.

Sie habe außerdem Krebs und sei 2021 in Deutschland vergewaltigt worden.

Das VG glaubt den Angaben der Frau uneingeschränkt und sieht eine geschlechtsspezifische Verfolgung gem. § 3b Abs. 1 Nr.4 Abs. 2, 3 c Nr. 3 Asylgesetz (AsylG) durch ihren Vater und ihren Bruder und deren stark archaisch patriarchale Vorstellungen gegeben. Sie sei als Opfer schwerer psychischer wie physischer Gewalt vorverfolgt ausgereist.

Das Gericht legt dar, dass nicht jede gegen Frauen gerichtete Verfolgung als geschlechtsspezifische Verfolgung einzustufen sei. Erforderlich sei, dass das Geschlecht in dem betreffenden Land von der Gesellschaft aus z.B. patriarchaler Einstellung zum Objekt von Missbrauch herabgesetzt wird. Hierbei macht das Gericht Ausführungen zu den äußerst patriarchalischen Familienstrukturen, in denen die Klägerin aufgewachsen sei, wie sich insbesondere in dem versuchten Ehrenmord durch Verbrennen zeige. Die Klägerin sei als ehrlose Person stigmatisiert. Ihre Mutter und der Onkel könnten sich nur in Grenzen solidarisieren und sie unterstützen. Diese Grenzen seien überschritten durch die Flucht der Klägerin, die indem sie sich der Familie entzog, erneut Ehrenschuld auf sich geladen habe.

Die gleichen patriarchalen Strukturen prägen nach Ansicht des Gerichts auch die konservative Bevölkerung in der Gegend des Herkunftsortes der Klägerin, in der nach vom Gericht benannten Quellen Zwangs- und Kinderehen, Misshandlung von Frauen und Femizide verbreitet seien. Diese Taten blieben in der Regel straffrei.

Es sei also kein staatlicher Schutz zu erwarten, was ebenso für häusliche Gewalt gelte, die im Iran, weit verbreitet sei.

Auch innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten sind nach Ansicht des Gerichts nicht gegeben, da die Situation alleinstehender Frauen im Iran nach wie vor schlecht und unter der Pandemie und Sanktionsbedingungen noch schlechter geworden sei. Insbesondere Frauen seien hiervon betroffen. Die Klägerin, auch bedingt durch ihre traumatische Erfahrung, sei nicht in der Lage, die Kraft aufzubringen, ohne familiäre Unterstützung ihre Existenz zu sichern. Das Gericht erkennt an, dass es zwar Unterstützungsstrukturen für Frauen im Iran gäbe, diese seien aber für den tatsächlichen Bedarf nicht ausreichend.

Daher sei die Situation allein lebender Frauen sehr schwierig und sie geraten schnell in finanzielle Not, die sie zwingen könne Ehen auf Zeit einzugehen, um nicht obdachlos zu werden.
Insgesamt kommt das Gericht zu dem Schluss, dass die zu erwartende Rückkehrsituation für die Klägerin zu einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) führen würde.

Entscheidung im Volltext:

vg_stuttgart_03_12_2021 (PDF, 4 MB, nicht barrierefrei)

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