SG Nürnberg, Beschluss as of 3/9/2023
Aktenzeichen S 5 SO 25/23 ER

Key issues

Interessante Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz im Sozialgerichtsverfahren um Leistungen der Eingliederungshilfe für Nichtdeutsche; Ausführungen zu Beschränkung auf Ermessensleistungen gem. § 100 Abs. 1 S. 1 SGB IX; SG bejaht Anspruch auf Kostenübernahme für Tagesstättenbesuch für ukrainischen Jungen mit Trisomie 21

Summary

Das Sozialgericht (SG) verpflichtet den Bezirk Mittelfranken, die Kosten für den Besuch einer heilpädagogischen Tagesstätte für einen ukrainischen Jungen mit Behinderung zu übernehmen. Der neunjährige Junge mit Trisomie 21 war im März 2022 mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Der Junge hatte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).

Der Bezirk Mittelfranken hatte die Kostenübernahme abgelehnt und sich auf die Regelung in § 100 des 9. Sozialgesetzbuch (SGB IX) berufen, nach der Ausländer*innen Eingliederungshilfe beziehen können. Der Bezirk argumentierte, nach der Regelung läge es im Ermessen der Behörde, Leistungen zu erbringen, wenn absehbar sei, dass die Person nur vorübergehend in Deutschland lebe. Dies gelte für den Jungen, da seine Aufenthaltserlaubnis auf zwei Jahre befristet und daher nicht von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen sei. Der Krieg in der Ukraine dauere noch nicht so lange, wie beispielsweise in Syrien, außerdem sei eine medizinische Versorgung auch in der Ukraine gewährleistet. Eine Rückkehr sei daher perspektivisch möglich. Die Finanzierung des Besuchs der Tagesstätte erscheine zwar geeignet zur Förderung und Integrierung des Jungen, sei aber weder angemessen noch erforderlich.

Dem widerspricht das SG strikt und sieht in der auf 2 Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnis des Jungen sehr wohl eine Perspektive auf einen dauerhaften Aufenthalt. Die Aufenthaltserlaubnis sei nach Art. 4 Abs.1 der EU-Richtlinie zum Vorübergehenden Schutz (RL 2001/55/EG) erteilt und aufgrund dessen zunächst befristet, sie sei aber verlängerbar. Die Argumentation der Behörde, sei auch angesichts des Geschehens in der Ukraine mit dem über ein Jahr anhaltenden Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und Hunderttausenden von Toten sowie der massiven Zerstörung der Infrastruktur völlig verfehlt. Im Übrigen widerspräche sie einer Weisung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Anwendung des § 100 Abs. 1 SGB IX bei geflüchteten Ukrainer*innen mit Behinderung vom 29.04.2022, wonach davon auszugehen sei, dass ukrainische Geflüchtete länger oder auch dauerhaft in Deutschland bleiben werden. Es sei aber jeweils auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen. Hier bemängelt das SG, dass sich in den Bescheiden der Behörde keinerlei Auseinandersetzungen mit der konkreten Situation des Jungen fänden. Ebenso hätte die Behörde trotz der Verpflichtung zu Ermittlungen von Amtswegen keine Versuche zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts gemacht. Alle von Seiten des Antragsstellers vorgelegten Unterlagen sprächen vielmehr für einen auf Dauer angelegten Aufenthalt. Da die Eltern des Jungen vorhätten, in Deutschland zu bleiben und dies auch rechtlich möglich scheine, sei von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen.

 

Entscheidung im Volltext:

sg_nuernberg_09_03_2023 (PDF, 312 KB, nicht barrierefrei)

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