EuGH, Urteil as of 2/8/2024
Aktenzeichen C-216/22

Key issues

Wegweisendes Urteil im Vorabentscheidungsverfahren über die Auslegung der Art. 33 Abs. 2 Buchst. d, Art. 40 Abs. 2 und 3 und Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32/EU; Asylfolgeantrag; Voraussetzungen für die Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig; Änderung der Sach- oder Rechtslage, EuGH-Urteile können erneute volle Prüfung rechtfertigen

Summary

Die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) betrifft die Auslegung von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d, Art. 40 Abs. 2 und 3 und Art. 46 Abs. 1 Buchst. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes.

Das Urteil erging im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einem Mann aus Syrien und Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über die Ablehnung seines Folgeantrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als unzulässig.

Der Mann, der Syrien 2012 verlassen hatte, weil er befürchtete, zum Militärdienst einberufen oder verhaftet zu werden, wenn er den Kriegsdienst verweigern würde, hatte einen Antrag auf internationalen Schutz in Deutschland gestellt. Ihm wurde im Jahr 2017 in Deutschland lediglich subsidiärer Schutz zuerkannt. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wurde abgelehnt.

Im November 2019 urteilte der EuGH, dass bei syrischen Kriegsdienstverweigerern eine starke Vermutung für einen Anspruch auf Flüchtlingsanerkennung bestehe. Es sei Sache des BAMF zu beweisen, dass kein Verfolgungsgrund gegeben sei (Urteil des EuGH vom 19.11.2020, Az. C-238/19). Daher stellte der Mann aus Syrien einen neuen Asylantrag, auch Folgeantrag genannt. Ein solcher Folgeantrag ist nur unter engen Voraussetzungen möglich, insbesondere dann, wenn sich die "Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat", vgl. § 71 Abs. 1 S. 1 Asylgesetz (AsylG) i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG). Der Betroffene argumentierte, dass das Urteil des EuGH für ihn eine vorteilhafte Änderung der Rechtslage im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstelle, sodass das BAMF den Folgeantrag inhaltlich neu prüfen müsse. Das BAMF lehnte den Folgeantrag jedoch als unzulässig ab.

Der Betroffene klagte gegen diese Ablehnung vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen. Dieses legte dem EuGH mehrere Fragen im Vorabentscheidungsverfahren vor. Der EuGH sollte entscheiden, unter welchen Voraussetzungen ein Urteil des EuGH einen neuen Umstand bzw. ein neues Element oder eine neue Erkenntnis im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d und Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 darstellen kann. Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie zählt abschließend die Situationen auf, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können. Ein solcher Fall ist unter anderem gegeben, wenn es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, eingetreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Art. 40 der Richtlinie 2013/32 regelt das Verfahren zur Prüfung der Folgeanträge, welcher ebenfalls in einem ersten Schritt die Prüfung von neuen Elementen oder Erkenntnisse vorsieht. Eine weitere Frage war, ob Art. 46 Abs. 1 Bucht. a Ziff. ii der Richtlinie 2013/32/EU dahingehend auszulegen ist, dass das zuständige nationale Gericht, wenn es eine Entscheidung für nichtig erklärt, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, selbst über diesen Antrag entscheiden kann, ohne dessen Prüfung an die Asylbehörde zurückverweisen zu müssen. Außerdem sollte geklärt werden, ob dem Antragsteller in diesem Fall die Verfahrensgarantien aus Kapitel II der Richtlinie 2013/32 zugutekommen müssen.

Der EuGH entscheidet, dass grundsätzlich jedes seiner Urteile einen neuen Umstand darstellen kann, der eine erneute vollständige Prüfung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen kann. Aus dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2013/32 und der Formulierung „neue Umstände oder Erkenntnisse“ gehe hervor, dass diese Bestimmung sich nicht nur auf eine Änderung der persönlichen Situation eines Antragstellers oder seines Herkunftslandes beziehe, sondern auch auf neue rechtliche Umstände. Dies gelte auch für Urteile, die lediglich eine zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag bereits bestehende Vorschrift des Unionsrechts auslegen. Das Verkündungsdatum des Urteils spiele dabei keine Rolle. Ein neues EuGH-Urteil rechtfertige jedoch nur dann eine neue Prüfung im Rahmen eines Asylfolgeantrags, wenn es "erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt", dass der*die Antragsteller*in Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes hat. Diese Prüfung liegt in der Verantwortung des BAMF.

Bezüglich des weiteren Verfahrens stellt der EuGH klar, dass die Mitgliedstaaten ihre Gerichte ermächtigen können, selbst über den Folgeantrag zu entscheiden und gegebenenfalls die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn sie eine Entscheidung aufheben, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wurde. Sie sind jedoch nicht dazu verpflichtet. Dabei müssten jedoch die in Kapitel II der Richtlinie 2013/32/EU vorgesehenen Garantien beachtet werden. Das heißt, eine persönliche Anhörung unter Einhaltung aller in der Richtlinie 2013/32/EU festgelegten Gewährleistungen und Garantien muss durchgeführt werden oder es muss anhand der verfügbaren Beweismittel eine positive Entscheidung im Hinblick auf die Flüchtlingseigenschaft getroffen werden und insofern auf eine solche Anhörung gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie verzichtet werden.

Entscheidung im Volltext:

EuGH_08_02_2024 (PDF, 434 KB, nicht barrierefrei)

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