Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; Urteil zur Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie); familiäre Bindungen und das Wohl des Kindes sind bereits vor Erlass einer Rückkehrentscheidung, d.h. auch im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung, zu berücksichtigen
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entscheidet anlässlich eines belgischen Vorabentscheidungsersuchens, dass Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie) i.V.m. Art. 24 der EU-Grundrechtecharta (GRC) dahingehend auszulegen ist, dass Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Kindeswohl zu berücksichtigen haben. Dies gelte auch dann, wenn nicht das Kind, sondern ein Elternteil Adressat der Rückkehrentscheidung sei.
Der Beschwerdeführer hat eine belgische Lebensgefährtin und eine minderjährige Tochter mit belgischer Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2018 wurde er aufgefordert, Belgien zu verlassen, und ihm wurde die erneute Einreise untersagt. Begründet wurde dies damit, dass er in Belgien Straftaten begangen habe und daher als Gefahr für die öffentliche Ordnung anzusehen sei. Die Klage des Beschwerdeführers gegen diese Entscheidung wurde vom Rat für Ausländerstreitsachen abgewiesen. Gegen diese Entscheidung legte der Beschwerdeführer beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein. Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, dass bei der gegen ihn ergangenen Rückkehrentscheidung auch das Kindeswohl seiner Tochter zu berücksichtigen sei.
Das belgische Gericht hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt. Die Frage betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie). Der EuGH sollte klären, ob Art. 5 i.V.m. Art. 13 der Richtlinie 2008/115/EG und Art. 24 und 47 GRC dahingehend auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten das Kindeswohl berücksichtigen müssen, bevor sie eine mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung gegen ein Elternteil erlassen.
Zur Begründung führt der EuGH an, dass es sich bei Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115/EG um eine allgemeine Regel handele, die bei der Umsetzung der Richtlinie unmittelbar zu beachten sei. Etwa auch dann, wenn sich die Rückkehrentscheidung gegen einen Elternteil und nicht gegen das Kind richte. In diesem Zusammenhang verweist der EuGH auf den Zweck des Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG, die in Art. 24 der GRC verankerten Grundrechte des Kindes zu wahren. Unter Berücksichtigung dieses Zwecks dürfe Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG nicht zu eng ausgelegt werden.
Nach Art. 24 Abs. 2 der GRC müsse bei allen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen, die Kinder betreffen, das Kindeswohl eine vorrangige Erwägung sein. Dies gelte auch für Entscheidungen, die sich – wie im vorliegenden Fall – gegen einen Elternteil richten, aber weitreichende Folgen für das Kind haben. Dies werde durch Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte der Kinder bestätigt, wonach bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen sei.
Schließlich seien alle Fälle, in denen die in Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG aufgezählten Gesichtspunkte nur im Hinblick auf den unmittelbar von der Entscheidung betroffenen Drittstaatsangehörigen berücksichtigt werden sollen, vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich genannt. Darüber hinaus enthalte die sog. Rückführungsrichtlinie andere Vorschriften, die ebenfalls eine Berücksichtigung des Kindeswohls vorsehen, auch wenn das Kind nicht Adressat der Entscheidung sei.
Nach dieser Entscheidung erscheint es naheliegend, dass Art. 5 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie auch dazu führt, dass das Kindeswohl bereits im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung zu berücksichtigen ist und nicht erst im Rahmen der Prüfung von Duldungsgründen nach § 60a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Berücksichtigung von familiären Bindungen und Kindeswohl bei Erlass vonRückkehrentscheidung
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