Revisionsentscheidung des EuGH; diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen in Afghanistan als Verfolgungshandlungen im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU; geschlechtsspezifische Diskriminierung und Flüchtlingseigenschaft
Der EuGH hatte in den verbundenen Rechtssachen C‑608/22 und C‑609/22 über Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs zu entscheiden. Die Fälle betrafen zwei weibliche afghanische Staatsangehörige, die in Österreich internationalen Schutz beantragt hatten. Die Klägerinnen führten an, dass sie aufgrund der Diskriminierung und Verfolgung von Frauen durch das Taliban-Regime in Afghanistan einer Verfolgung im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU ausgesetzt seien. Die österreichischen Behörden hatten den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft verweigert und ihnen lediglich subsidiären Schutz gewährt, mit der Begründung, dass die gegen sie gerichteten Maßnahmen nicht den erforderlichen Schweregrad einer Verfolgungshandlung aufwiesen. Das Bundesverwaltungsgericht folgte der behördlichen Ansicht. Die Klägerinnen legten darauf Revision beim österreichischen Verwaltungsgerichtshof ein.
Der Verwaltungsgerichtshof entschied, dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV zwei Fragen vorzulegen:
Der EuGH stellt fest, dass die kumulative Wirkung der von den Taliban verhängten Maßnahmen gegen Frauen, wie das Verbot der Teilhabe an politischen Ämtern, der eingeschränkte Zugang zu Bildung und Erwerbstätigkeit, Zwangsverheiratungen, das Fehlen rechtlichen Schutzes vor geschlechtsspezifischer Gewalt und die Verpflichtung, den Körper vollständig zu bedecken, als Verfolgungshandlungen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU zu bewerten sind. Der EuGH argumentiert, dass diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit hinreichend gravierend sind, um die Menschenwürde der betroffenen Frauen erheblich zu beeinträchtigen. Auch wenn einzelne Maßnahmen für sich genommen möglicherweise keine schwerwiegende Verletzung der Grundrechte darstellen, so führt ihre kumulative Anwendung dennoch zu einem Schweregrad, der mit dem einer Verfolgungshandlung vergleichbar ist.
Der EuGH verweist auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die individuelle Lage und die persönlichen Umstände der Antragstellerinnen im Lichte der spezifischen Diskriminierungen, denen sie ausgesetzt sind, zu prüfen. Dabei betont er jedoch, dass in Fällen, in denen afghanische Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Staatsangehörigkeit systematischer Diskriminierung durch die Taliban ausgesetzt sind, eine detaillierte individuelle Prüfung ihrer persönlichen Situation möglicherweise nicht erforderlich ist. Denn es ist es ausreichend, dass eine Frau von diesen diskriminierenden Maßnahmen betroffen ist, um die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zu begründen, ohne dass eine zusätzliche spezifische Bedrohungslage nachgewiesen werden muss.
Die Entscheidung des EuGH unterstreicht, dass diskriminierende Maßnahmen gegen Frauen in Afghanistan, die in ihrer Gesamtheit eine systematische und schwerwiegende Einschränkung ihrer
Grundrechte darstellen, als Verfolgung im Sinne des europäischen Flüchtlingsrechts zu qualifizieren sind. Damit stärkt der Gerichtshof den Schutzstatus von Frauen, die in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts verfolgt werden.
Die Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die Praxis der Asylbehörden in den EU-Mitgliedstaaten. Für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus von afghanischen Frauen genügt es demnach, Geschlecht und Staatsangehörigkeit festzustellen, um eine Verfolgungsgefahr anzunehmen. Darüberhinausgehende individuelle Verfolgungsgründe müssen nicht vorgetragen werden.
Entscheidung im Volltext: