Bedenk- und Stabilisierungsfrist

Um einen angemessenen Opferschutz gewährleisten zu können, ist die Vermeidung voreiliger Ausweisungen oder Abschiebungen von Betroffenen des Menschenhandels essentiell. Die Erteilung einer dreimonatigen Bedenk- und Stabilisierungsfrist, auch Erholungs- und Bedenkfrist genannt, schafft Betroffenen ohne deutsche Staatsbürgerschaft eine notwendige Grundlage, um sich zu erholen und dem Einfluss der Täter*innen zu entziehen. Betroffene benötigen diese Zeit, um sich zunächst zu stabilisieren und Erstversorgung zu erhalten (bspw. medizinische Leistungen oder eine sichere Unterkunft). Sie können sich ihrer aktuellen Situation sowie ihrer Rechte bewusst werden und Beratung in Anspruch nehmen. Zudem wird durch die Bedenk- und Stabilisierungsfrist eine Entscheidungsfindung darüber ermöglicht, ob sie als Zeug*in in einem Strafverfahren kooperieren möchten oder ggf. ihre freiwillige Ausreise vorbereiten. 


Regelung des § 59 Abs. 7 AufenthG

Wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Person ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die sich in Deutschland aufhält, Betroffene von Menschenhandel sein könnte, ist die Ausländerbehörde gem. § 59 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) grundsätzlich dazu verpflichtet, eine sogenannte „Ausreisefrist“ von mindestens drei Monaten zu erteilen.  Dies gilt unabhängig von einer Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden.

Um den Beweisanforderungen der „konkreten Anhaltspunkte“ gerecht zu werden, ist die plausible Aussage der Person, sie sei Betroffene einer in § 25 Abs. 4a S. 1 AufenthG genannten Straftat, grundsätzlich ausreichend, vgl. Ziff. 50.2a.1.2 AVV AufenthG. Die konkreten Anhaltspunkte können auch durch Informationen von Polizei oder Staatsanwaltschaft sowie durch eine Fachberatungsstelle für Betroffene von Menschenhandel erbracht werden.

Während der Bedenk- und Stabilisierungsfrist nach § 59 Abs. 7 AufenthG erhalten Betroffene als Geduldete i.S.v. § 60a AufenthG Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG). Für von Menschenhandel betroffenen EU-Bürger*innen besteht grundsätzlich die Möglichkeit, in dieser Zeit Leistungen nach dem SGB II zu beziehen. Die Beratungspraxis zeigt jedoch, dass häufig Schwierigkeiten beim Leistungsbezug bestehen, da spezielle Vorschriften der Jobcenter nicht oder mit überspannten Anforderungen angewendet werden.


Vorgaben aus dem EU-Recht und nationale Umsetzungsprobleme

Das Recht auf eine Bedenk- und Stabilisierungsfrist ist sowohl in Art. 6 Abs. 1 EU-Richtlinie 2004/81/EG (sog. Opferschutzrichtlinie) als auch in Art. 13 Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels verankert. Während § 59 Abs. 7 AufenthG der Umsetzung der Opferschutzrichtlinie in Deutschland dient, wurden in der nationalen Gesetzgebung darüber hinaus zusätzliche Beteiligungsvoraussetzungen festgeschrieben. So muss nach § 72 Abs. 6 AufenthG die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über die Erteilung einer Ausreisefrist die zuständige Strafverfolgungsbehörde beteiligen. In der Praxis führt dies dazu, dass sich Betroffene von Menschenhandel für die Erteilung des § 59 Abs.7 AufenthG bereits zu einem Zeitpunkt an die Polizei oder Staatsanwaltschaft wenden müssen, in dem sie sich eigentlich noch in der Stabilisierungszeit befinden. Wenn jedoch die Strafverfolgungsbehörden von einer Straftat Kenntnis erlangen, müssen sie von Amts wegen Ermittlungen aufnehmen. In der Konsequenz entscheiden sich viele Betroffene erst gar nicht dazu, sich an Strafverfolgungsbehörden zu wenden, oder aber die Ausreisefrist wird ihnen verwehrt.

KOK-Kurzinformation zur Bedenk- und Stabilisierungsfrist

Zuletzt aktualisiert: Mai 2023