EGMR, Urteil vom 21.1.2016
Beschwerde Nummer 71545/12

Stichpunkte

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt in seiner Entscheidung "L.E. gegen Griechenland" fest, dass Art.4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht nur Sklaverei und Zwangsarbeit verbietet, sondern den Staaten auch die Verpflichtung auferlegt, Maßnahmen dagegen durchzuführen; staatliche Untätigkeit bei Strafermittlung und Opferschutz trotz durch Nichtregierungsorganisation bestätigten Verdacht auf Menschenhandel verstößt gegen Art. 4 EMRK; 12.000,- Euro Schmerzensgeld für Beschwerdeführerin

Zusammenfassung

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin L.E. ist eine nigerianische Staatsbürgerin. Sie war 2004 nach Griechenland eingereist, wo K.A. ihr eine Arbeit versprochen hatte. Als Gegenleistung sollte sie ihm 40.000,- Euro zahlen. In GR angekommen, nahm er ihr jedoch ihren Pass ab und eröffnete ihr unter Androhung von Voodoo, sie habe in der Prostitution die 40.000,- € bei ihm abzuarbeiten. L.E. nahm seine Drohung ernst und sah keine andere Möglichkeit ihre „Schulden“ zu bezahlen, als sich zu prostituieren. Zwei Jahre arbeitete sie in der Prostitution, wurde mehrmals deswegen festgenommen aber immer wieder frei gelassen. Im November 2006 wurde sie in Abschiebehaft genommen. Dort gab sie an, Opfer von Menschenhandel zu sein und kam in Kontakt zu der Hilfsorganisation Nea Zoi (Neues Leben). Mit Unterstützung dieser NGO erstattete sie Anzeige gegen K.A. und seine Partnerin D.J.. In diesem Zusammenhang sagte auch die Leiterin der NGO aus, dass die Beschwerdeführerin ein Opfer von Menschenhandel sei und aus Angst vor Vodoo-Praktiken nicht fliehen konnte.

Die Staatsanwaltschaft (StA) lehnte jedoch eine Anklageerhebung ab mit der Begründung, es gäbe keine Anzeichen für Menschenhandel, L.E. sei vielmehr freiwillig der Prostitution nachgegangen. Die Aussage der NGO wurde nicht berücksichtigt. Im Januar 2007 beantragte die Beschwerdeführerin bei der übergeordneten Staatsanwaltschaft insbesondere unter Verweis auf die Aussage der NGO eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Daraufhin wurde ihre Abschiebung vorläufig gestoppt. Die StA leitete im August 2007 Ermittlungen ein und erkannte die Frau offiziell als Menschenhandelsopfer an. Im Rahmen der Ermittlungen konnte jedoch nur D.J. im Mai 2011 festgenommen werden, gegen die Anklage erhoben wurde. Der Haupttäter K.A. blieb unauffindbar. Mit Urteil vom April 2012 stellte das Gericht fest, dass der D.J. eine Mittäterschaft nicht ausreichend zu beweisen, vielmehr davon auszugehen sei, dass auch sie  ein Opfer von Menschenhandel durch K.A. war.

 

Rechtliche Bewertung:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bejaht einen Verstoß Griechenlands gegen Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Er erläutert, dass Art. 4 EMRK den Staaten nicht nur Sklaverei und Zwangsarbeit verbietet, sondern darüber hinaus auch sogenannte positive Pflichten nach sich zieht. Das bedeutet, dass Staaten auch tätig werden und Maßnahmen ergreifen müssen, die verhindern, dass Dritte jemanden in Zwangsarbeit bringen oder versklaven. Der EGMR unterstreicht, dass hierzu von den Staaten umfassende Maßnahmen getroffen werden müssen, sowohl um die Täter*innen zu bestrafen als auch um die Opfer zu schützen. Dies erfordere entsprechende rechtliche Vorschriften auch zum Opferschutz. Die aufenthaltsrechtlichen Regelungen seien so anzupassen, dass den Opfern Hilfe geleistet werden kann. Der EGMR führt aus, dass Griechenland die internationalen Empfehlungen im Bezug auf Gesetze zur Bekämpfung des Menschenhandels umgesetzt und insofern den Verpflichtungen entsprochen habe, die sich aus Artikel 4 EMRK ergeben. Den sich daraus ergebenden Pflichten zu tatsächlichem Tätigwerden, sei Griechenland aber nicht gerecht geworden, denn dies erfordere sowohl effektive Ermittlungen als auch Opferschutz bei Verdacht auf Menschenhandel. Da L.E. bereits im November 2006 angegeben hatte, Opfer von Menschenhandel zu sein, habe ein hinreichender Verdacht für die Behörden vorgelegen, der sie verpflichtete Opferschutz zu gewähren. Indem der Staatsanwalt trotz Aussage der NGO keine Anhaltspunkte für Menschenhandel annahm, Ermittlungen ablehnte und L.E. erst auf ihren Wiederaufnahmeantrag bei dem Staatsanwalt der höheren Instanz als Opfer von Menschenhandel anerkannt und Ermittlungen aufgenommen habe, verletze Griechenland durch diese zeitliche Verzögerung von neun Monaten die Pflichten, die sich aus Artikel 4 EMRK ergeben. Auch seien die Ermittlungen zur Ergreifung des K.A. unzureichend gewesen.

Durch die unverhältnismäßige Länge des Strafverfahrens von Januar 2007, als sich L.E. als Nebenklägerin dem Verfahren anschloss, bis zur Urteilsverkündung im April 2012 sieht der Gerichtshof auch einen Verstoß gegen Art. 6 und 13 EMRK als Schutz vor überlanger Verfahrensdauer gegeben und spricht L.E. 12.000,- Euro Schmerzensgeld und 3.000,- Euro Entschädigung für ihre Ausgaben zu.

 

Entscheidung im Volltext (französisch und englisch) und Presseerklärung EGMR (englisch):

Egmr_21_01_2016 (PDF, 460 KB, nicht barrierefrei, französisch)

Presseerklärung zu EGMR-Entscheidung vom 21.01.2016 (PDF, 103 KB, nicht barrierefrei, englisch)

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