EUGH, Urteil vom 16.2.2017
Aktenzeichen C-578/16

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren um Dublin-Überstellung von Schwerkranken; umfassende Ausführungen zu Kriterien für Verstoß gegen Verbot einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention bzw. Grundrechtscharta; unabhängig von der Qualität des Asyl- und Aufnahmesystems des Zielstaats kann Überstellung selbst Verstoß darstellen

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt fest, dass eine Rücküberstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat auch dann unzulässig sein kann, wenn keine systemischen Mängel des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen bestehen, aber eine ernsthafte Erkrankung des/der zu Überstellenden vorliegt.

Eine Syrerin war mit ihrem ägyptischen Mann über Kroatien nach Slowenien eingereist und das Paar hatte dort Asyl beantragt. Die Frau war schwanger. Nach der Geburt des Kindes wurde sie stark depressiv mit suizidaler Tendenz.

Die Asylanträge der Familie wurden aufgrund der Dublin-III-Verordnung abgelehnt und eine Abschiebung nach Kroatien angeordnet. Im folgenden Verwaltungsgerichtsverfahren wurde den Behörden aufgegeben, von den kroatischen Behörden eine Zusicherung einzuholen, dass die Familie in Kroatien Zugang zu medizinischer Versorgung habe. Eine solche wurde von den kroatischen Behörden nebst Unterbringung zugesichert.

Daraufhin wurde die Überstellung angeordnet. Hiergegen ging die Familie vor, wobei sie sich auf ärztliche Gutachten zum Beleg der Erkrankung der Frau stützte. Die psychische Erkrankung wurde dort auch auf den, mit dem ungeklärten Status verbundenen Stress zurückgeführt.

Der EuGH legt dar, dass nicht allein auf die Situation im Zielland abzustellen sei, sondern dass auch inlandsbezogene Umstände, wie hier die Krankheit der Frau, zu berücksichtigen seien.

Er hebt zunächst hervor, dass der Unionsgesetzgeber mit der Dublin-III-Verordnung den Schutz der Rechte der Asylbewerber*innen in den Fokus rückt.

Insbesondere in den Überstellungsentscheidungen seien sowohl wirksame Rechtsmittel zu garantieren als auch Schutz vor unmenschlicher und erniedrigender Behandlung zu gewähren. Der Gerichtshof macht Ausführungen zu Art. 4 der Europäischen Grundrechtscharta sowie dem entsprechenden Art 3. der Europäischen Menschenrechtskonvention nach denen eine Überstellung von Asylsuchenden nicht zulässig sei, wenn diese ein ernsthaftes und erwiesenes Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung mit sich bringe. Dies gelte unabhängig von der Qualität des Asyl- und Aufnahmesystems des Zielstaats. Ist mit der Überstellung von Asylsuchenden, die unter schweren psychischen Beeinträchtigungen leiden die Gefahr einer unumkehrbaren Verschlechterung des Zustandes verbunden, stelle dies eine unmenschliche erniedrigende Behandlung dar. Art 4 der Grundrechtscharta bzw. Art 3 EMRK seien während des gesamten Dublin-Verfahrens zu beachten. Hierbei seien die Behörden an die Auslegung durch den EGMR und dessen Rechtsprechung gebunden. Es sei nicht nur auf die Situation im Zielland abzustellen, sondern auch die Überstellung an sich dürfe keine Verletzung dieser Grundrechte darstellen.

Drohe durch die Überstellung eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes, dürfe sie nur durchgeführt werden, wenn der Gesundheitszustand der zu überstellenden Person während der gesamten Überstellung ausreichend geschützt werde. Dies sei vom überstellenden Mitgliedstaat zu gewähren.

Der Gerichtshof macht umfassende Ausführungen zur Gestaltung der Überstellung, insbesondere zu den zu treffenden Vorsichtsmaßnahmen im Falle einer festgestellten Suizidalität. Ebenso stellt er klar, dass sich die Überstellungsfrist von 6 Monaten nicht verlängert, wenn eine Überstellung krankheitsbedingt nicht möglich ist. Für diese Fälle empfiehlt der Gerichtshof den Mitgliedstaaten von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Entscheidung im Volltext:

eugh_16_02_2017 (PDF, 202 KB, nicht barrierefrei)

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