VG Frankfurt, Urteil vom 4.7.2012
Aktenzeichen 1 K 1836/11.F.A

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um die Flüchtlingsanerkennung einer zwangsverheirateten Iranerin; sowohl die Zwangsverheiratung als auch die Aufrechterhaltung einer zwangsweise eingegangenen Ehe verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK); die Eheschließungsfreiheit aus Artikel 12 EMRK garantiert auch das Recht nicht gegen den eigenen Willen eine Ehe eingehen zu müssen; Eltern, die ihre Tochter zwangsverheiraten, sowie Ehemänner, die ihre Frauen in Zwangsehen halten, sind nichtstaatliche Verfolgungsakteure; umfangreiche Darstellung der Entwicklung der Situation der Frau im Iran, insbesondere bezogen auf die Verheiratung und die mit einer Scheidung verbundenen Schwierigkeiten; von Zwangsverheiratung bedrohte oder bereits zwangsverheiratete Frauen stellen eine von Verfolgung bedrohte ‚bestimmte soziale Gruppe‘ im Sinne des § 60 Aufenthaltsgesetz dar.

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) Frankfurt verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft der Klägerin festzustellen.

Die Klägerin ist Iranerin. Sie wurde mit 15 Jahren gegen ihren Willen mit einem Mann verheiratet, der sie schwer misshandelte, wie eine Sklavin für sich arbeiten ließ und ihr den Besuch einer Schule untersagte. Als der Mann erfuhr, dass sie mit Unterstützung ihres Bruders heimlich eine Schule besuchte, drohte er beide zu töten. Es gelang ihnen nach Deutschland zu fliehen. Dort stellte die Klägerin einen Antrag auf Asyl, der jedoch abgelehnt wurde, da ihr Vortrag nicht glaubhaft sei und sie sich zudem innerhalb des Irans der ehelichen Situation hätte entziehen können.

Das Verwaltungsgericht glaubt jedoch den Angaben der Klägerin und stellt fest, dass sie damit einer Situation ausgesetzt war, die eine Verfolgung im Sinne des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes in Verbindung mit Artikel 9 der Qualifikationsrichtlinie darstellt. Dementsprechend sieht das Gericht die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben.

Das Gericht führt aus, dass die Klägerin mehreren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt war. Insbesondere verletzten der Akt der Zwangsverheiratung selbst und die Aufrechterhaltung dieses Zwangs Art.12 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), wonach Männer und Frauen das Recht haben, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Dieses Recht umfasse auch die negative Freiheit, eine Ehe nicht eingehen zu müssen, wenn dies nicht dem eigenen Wunsch entspricht. Außerdem verletzten die Zwangsverheiratung und die Nötigung zum Verbleib in einer Zwangsehe ihr Recht auf Privatleben nach Art. 8 EMRK. Die Anwendung psychischer und physischer Gewalt durch den Ehemann, um sie zur Arbeit zu zwingen, verstieß gegen das Menschenrecht auf Freiheit von Zwangsarbeit aus Art. 4 Abs. 2 EMRK.

Die Eltern, die die Frau zwangsverheiratet hatten, sowie den Ehemann, der sie mit Gewalt in der Ehe hielt, stuft das Gericht als nichtstaatliche Verfolgungsakteure ein. Es führt ferner aus, warum die Klägerin nicht die Möglichkeit hatte, anderweitigen Schutz in Anspruch zu nehmen. So käme im Iran nur der Staat als potentiell Schutzbietender in Frage, der jedoch in der Praxis weder Schutz vor Zwangsheirat noch bereits zwangsverheirateten Frauen Schutz biete. Zwar sei auch im Islam die freie Wahl des Ehepartners vorgesehen, aufgrund der rigiden Geschlechtertrennung faktisch jedoch kaum möglich. Das Gericht macht umfassende Ausführungen zur gegenwärtigen Praxis der Verheiratung innerhalb der Familie oder durch Heiratsvermittler sowie zu den fast unüberwindbaren Schwierigkeiten für die Frauen, sich scheiden zu lassen, beziehungsweise zu den Konsequenzen einer solchen Scheidung, die in der Regel gesellschaftliche Ächtung und Verstoßung durch die Familie bedeutet.

Nach Ansicht des Gerichts gehört die Klägerin dementsprechend zwei bestimmten sozialen, von Verfolgung bedrohten Gruppen gemäß § 60 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz an. Eine dieser ‚bestimmten sozialen Gruppen‘, so das Gericht, bilden die von Zwangsheirat bedrohten oder bereits zwangsverheirateten Frauen. Hierzu gehören im Iran alle Frauen im heiratsfähigen Alter, sofern sie nicht aus bestimmten Gründen wie zum Beispiel körperlichen Gebrechen oder als Akademikerin als nicht zu verheiraten eingestuft werden. Dass dies die Mehrheit der iranischen Frauen betrifft, widerspricht nach Ansicht des Gerichts der Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe nicht.

Zudem gehöre die Klägerin der bestimmten sozialen Gruppe der Frauen an, die von häuslicher Gewalt bedroht sind. Auch als solche habe sie weder vom Staat noch von der Familie Unterstützung zu erwarten.

Das Gericht führt aus, weshalb zu vermuten ist, dass der Mann der Klägerin diese im Falle ihrer Rückkehr in den Iran zu töten versuchen wird. Als alleinstehende Frau habe sie keine Möglichkeit in andere Gebiete des Irans auszuweichen.

Entscheidung im Volltext:

vg_frankfurt_04_07_2012_01.pdf