VG Stuttgart, Urteil vom 12.11.2013
Aktenzeichen A 6 K 1311/13

Stichpunkte

Verwaltungsgerichtsverfahren um Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen geschlechtsspezifischer sowie religiöser Verfolgung; Afghanin erhält nach missachtetem Heiratsverbot Flüchtlingsanerkennung; Strafen für Leib und Leben aufgrund patriarchalischer Anschauungen stellen geschlechtsspezifische Verfolgung dar; Ausführungen zur Berücksichtigung der Vorverfolgung und zur Verfolgung der Christen in Afghanistan

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Kläger, ein Ehepaar aus Afghanistan, als Flüchtlinge anzuerkennen. Die Klägerin hatte ihren Mann gegen den Willen ihrer Familie, die sie ihrem Cousin versprochen hatte, geheiratet. In der Folge waren beide mehrfach von den Brüdern der Klägerin geschlagen und mit dem Tode bedroht worden. Das Paar floh daraufhin 2010 nach Deutschland. Dort konvertierte der Mann außerdem vom Islam zum Christentum und fürchtet auch deshalb, bei einer Rückkehr nach Afghanistan zum Tode verurteilt zu werden.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte den Asylantrag abgelehnt, da keine staatliche Verfolgung vorgetragen worden sei und auch keine landesweite Verfolgung drohe. Das VG hält die Angaben der Kläger hingegen für glaubhaft. Für die Frau stellt es eine drohende geschlechtsspezifische Verfolgung fest. Diese ergäbe sich aus den in Afghanistan herrschenden konservativ-patriarchalischen Anschauungen. Zwangsverheiratung sei dort noch üblich. Da die Klägerin sich der Verheiratung mit ihrem Cousin widersetzt habe, müsse sie mit Strafen für Leib oder Leben rechnen. Das Gericht verweist auf Artikel 4 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83 EG), der bestimmt, dass bei einer Vorverfolgung stichhaltige Gründe vorgebracht werden müssten, dass eine erneute Verfolgung bei einer Rückkehr nicht zu befürchten sei. Im Falle der Klägerin sei eine solche erneute Verfolgung jedoch zu erwarten. Diese gehe zwar nicht vom Staat sondern von der Familie aus, der Staat gewähre aber keinen Schutz.

Auch für den Ehemann sah das Gericht die Flüchtlingseigenschaft gegeben. Es macht Ausführungen zur Verfolgung der Christen in Afghanistan und stellt fest, dass der Mann im Falle der Rückkehr die Todesstrafe zu befürchten habe.

Eine Gefährdung bestehe auch landesweit, da es für die Familie mit der inzwischen erkrankten Frau und zwei kleinen Kindern in Afghanistan ohne ein Netzwerk und finanzielle Mittel keine Überlebensmöglichkeit gebe.

Entscheidung im Volltext:

vg_stuttgart_12_11_2013 (PDF, 78 KB, nicht barrierefrei)