BGH, Urteil vom 19.11.2009
Aktenzeichen 3 StR 87/09

Stichpunkte

Vorangegangenes Urteil LG Verden, 1. große Strafkammer, vom 02.07.2008, Aktenzeichen 1 Kls 6/07 Umfangreiches Straf- und Adhäsionsverfahren wegen Menschenhandels zur sexuellen Ausbeutung, Geiselnahme, Vergewaltigung und sexueller Nötigung; Schmerzensgeld in Höhe von je 150.000 Euro für zwei der Nebenklägerinnen; Landgerichts-Urteil mit sehr umfangreichen Ausführungen zur Glaubhaftigkeitsprüfung einer polizeilich protokollierten Aussage, wenn Hauptbelastungszeugin nicht vernehmungsfähig; Ausführungen zu Opferverhalten und Täter-Opferbeziehung bei länger andauernden Gewalttaten; ausführliche Darstellung der Tatfolgen und der Kriterien zur Bemessung des Schmerzensgeldes; Ausführungen zum Kostenentscheid im Adhäsionsverfahren, wenn Gericht unter geforderter Summe bleibt.

Zusammenfassung

Auf die Revision der Angeklagten Kl. und K. gegen ihre Verurteilung durch das Landgericht (LG) Verden hin ändert der Bundesgerichtshof (BGH) nur den Schuldspruch hinsichtlich Kl. geringfügig. Das Landgericht hatte die Angeklagten unter anderem wegen Geiselnahme, schweren Menschenhandels, schwerer Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu Freiheitsstrafen von 14 Jahren mit anschließender Sicherungsverwahrung bzw. 12 Jahren und sechs Monaten verurteilt. Im Adhäsionsverfahren wurde Kl. zu Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von 150.000 Euro an die Nebenklägerin T. verurteilt. Beide Angeklagten wurden als Gesamtschuldner zur Zahlung von 150.000 Euro an die Nebenklägerin E. bzw. 5.000 Euro an die Nebenklägerin Eg. verurteilt. Darüber hinaus hat das Gericht eine Ersatzpflicht der Angeklagten für zukünftige aus der Tat herrührende Schäden festgestellt.

Das Tatgeschehen
Den Feststellungen des Landgerichts zufolge hatten die beiden Angeklagten Anfang 2006 beschlossen, im Haus von Kl. ein Bordell zu betreiben. Da sich auf ihre Anzeigen keine Prostituierten meldeten, entwickelten sie den Plan, Frauen unter dem Vorwand eines Jobangebotes in das Haus zu locken, sie dort zu überwältigen, gefangen zu halten und zur Prostitution zu zwingen.

So wurde die Nebenklägerin T. im August 2006 in das Haus gelockt und über einen Zeitraum von drei Monaten dort festgehalten. Sie wurde von dem Angeklagten Kl. regelmäßig vergewaltigt und gequält. Da er sie zur Freundin haben wollte, wurde sie nicht wie ursprünglich geplant der Prostitution zugeführt, sondern wurde genötigt, weitere Frauen zu benennen, die ins Haus gelockt und zur Prostitution gezwungen werden sollten.

Im September 2006 nahmen die Männer Kontakt zur Nebenklägerin E. auf. Unter dem Vorwand eines Vorstellungsgespräches wurde sie ins Haus gelockt, dort überwältigt und gefesselt. Teilweise musste auch T. Fesselungen und erniedrigende Handlungen an E. vornehmen. Hierbei wurde sie von Kl. gefilmt. T. musste E. als Prostituierte ausbilden. E. wurde vielfach von K. vergewaltigt und musste für ungefähr zwei Wochen als Prostituierte arbeiten. In dieser Zeit bediente sie etwa 24 Freier. Das Geld musste sie jeweils bei den Angeklagten abliefern.

Die Angeklagten gaben den Nebenklägerinnen gegenüber vor, einer großen kriminellen Organisation anzugehören. Um sie gefügig zu machen und von einer Flucht abzuhalten, drohten sie unter anderem damit, ihnen oder ihren Angehörigen etwas anzutun. Sowohl T. als auch E. hatten mehrfach die Gelegenheit zu fliehen. Da sie jedoch davon ausgingen, die Angeklagten hätten umfassende Kenntnisse ihrer Lebensumstände und deren Drohungen daher sehr ernst nahmen, flohen sie nicht.

Zudem schüchterten die Angeklagten die Nebenklägerinnen mit als „Strafaktionen“ deklarierten, grausamen und erniedrigenden Praktiken ein. So wurde T. komplett in eine Folie gewickelt und damit bedroht, sie so sterben zu lassen. E. musste unter anderem zehn Nächte in einem Käfig und über Stunden an einen Tisch gefesselt verbringen.

Auch E. wurde gezwungen, weitere potenzielle Opfer zu nennen. So stellte sie im Oktober 2006 Kontakt zu der ihr flüchtig bekannten Eg. her und vereinbarte ein Treffen. Eg. wurde ins Haus gebracht und dort überwältigt, entkleidet und in erniedrigender Position auf einen Stuhl gefesselt. Es gelang ihr jedoch in einem unbewachten Moment, sich zu befreien, über das Dach aus dem Haus zu fliehen und die Polizei zu benachrichtigen.

Die Angeklagten flohen noch vor der Ankunft der Polizei mit den Frauen. Während der Angeklagte K. sich wenige Tage später mit E. stellte, setzte der Angeklagte Kl. seine Flucht mit T. fort. Während dieser Zeit musste die Frau weitere Vergewaltigungen erdulden. Sich bietende Fluchtmöglichkeiten nahm sie auch jetzt aufgrund der fortwirkenden Bedrohung nicht wahr, aber auch, weil sie eigene Strafverfolgung aufgrund ihres Verhaltens gegenüber E. fürchtete. Erst am 23. November 2006 wurden Kl. und T. festgenommen und auch T. zunächst inhaftiert, da sie für eine Mittäterin gehalten wurde. Erst am 14. Dezember 2006 wurde sie freigelassen.

Aussagen der Zeuginnen und Glaubhaftigkeitsprüfung
Das Landgericht hat dieses Tatgeschehen aufgrund der Aussagen der Zeuginnen, insbesondere der Nebenklägerinnen, die es allesamt für glaubwürdig hielt, festgestellt. Das Gericht stützt sich im Wesentlichen auf die Aussage der Nebenklägerin und Hauptbelastungszeugin T., die es in vollem Umfang für glaubhaft hielt. Es konnte sich keinen persönlichen Eindruck von der Nebenklägerin machen, weil sie nicht vernehmungsfähig war, denn eine Zeugenvernehmung hätte laut Gutachter zu einer gefährlichen gesundheitlichen Destabilisierung führen können (Urteil Landgericht Seite 125).
Daher wurden die Protokolle der polizeilichen Vernehmung in das Verfahren eingeführt. Diese Aussage wurde einer besonders gewissenhaften Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen (Landgericht Seite 127-140). Dabei ging das Gericht von der sogenannten "Nullhypothese" aus. So wurde zunächst zu Gunsten der beiden Angeklagten K. und Kl. unterstellt, dass die Aussage von T. unwahr ist, und dies dann nach bestimmten Indizien überprüft. In der inhaltlichen Analyse der Aussage finden sich umfassende Ausführungen zu der Frage, warum die Frau glaubwürdig und nicht von einem erdachten Opfergeschehen auszugehen war. So sprachen nach Ansicht des Gerichts für die Glaubhaftigkeit der Aussage Kriterien wie die Detailschilderungen, die emotionale Begleitung der Aussage, körpersprachliche Signale sowie zum Beispiel das Springen im Tatgeschehen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln.

Das Gericht nimmt in seinen Ausführungen Stellung zu kritischen Fragen, wie dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen der vernehmenden Polizeibeamtin G. und der Nebenklägerin. Es hält aber die Aussage nicht für inhaltlich gesteuert, sondern die Erklärung der Polizeibeamtin für nachvollziehbar, dass nur so das durch die Angeklagten geschürte generelle Misstrauen T.s der Polizei gegenüber langsam abgebaut werden konnte (Landgericht Seite 126).

Auch der Umstand, dass T. erst nach zweieinhalb Wochen Haft ihre Aussage machte, was dann zu ihrer Freilassung führte, sprach für das Gericht nicht gegen ihre Glaubwürdigkeit, da sie von dem Angeklagten Kl. bedroht worden war, nicht bei der Polizei auszusagen. Auch hatte die Frau nach der langen Gefangenschaft nach Ansicht der Sachverständigen zunächst einfach nur zur Ruhe kommen wollen (Landgericht Seite 148).

Der Abgleich mit den Aussagen der anderen Zeuginnen und Zeugen, den Einlassungen der Angeklagten sowie den übrigen Beweismitteln stützten die Glaubwürdigkeit von T.

Das Gericht sah auch keinen Widerspruch darin, die Aussage der Frau im Ermittlungsverfahren für glaubhaft zu halten und gleichzeitig von einer Vernehmungsunfähigkeit auszugehen, denn diese bezog sich nicht grundsätzlich auf ihre Fähigkeit, über das Erlebte zu sprechen, sondern auf die gesundheitliche Gefährdung durch eine erneute Wiederholung vor Gericht.

Die Ausführungen mehrerer Sachverständiger bestätigen die Glaubwürdigkeit von T. und setzen sich unter anderem mit dem speziellen Opferverhalten und der Täter-Opferbeziehung bei länger dauernden Gewalttaten auseinander (Landgericht Seite 147ff).

Ebenso würdigt das Gericht auch die Aussage von E. als glaubhaft, wobei es insbesondere ihre emotionalen und authentischen Reaktionen während ihrer Aussage hervorhebt.

Die Tatfolgen und Bemessung des Schmerzensgeldes
Das Gericht macht detaillierte Feststellungen zu den Folgen des Geschehens für die Nebenklägerinnen (Landgericht Seite 87-88).

T. musste zum einen eine ca. 3-wöchige Inhaftierung erleiden, da sie als vermeintliche Mittäterin zunächst inhaftiert wurde. Darüber hinaus leidet sie seit der Tat an einer chronischen posttraumatischen Belastungsstörung, die sich unter anderem durch sogenannte "flashbacks" äußert, Dies bedeutet das Wiedererleben der traumatischen Situationen. Sie versucht zudem, die als "Trigger" bezeichneten Auslöser zu vermeiden. Hinzu kommen Alpträume, Schlafstörungen, Reizbarkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Die Konfrontation mit dem Tatgeschehen kann bei ihr unter anderem Nervenzusammenbrüche oder Selbstmordgefahr auslösen. Sie leidet unter Schuldgefühlen gegenüber E.

E. leidet unter zunehmenden psychischen Problemen wie unter anderem großer Angst, alleine zu sein oder Angst vor Fremden. Sie ist mit ihrer Familie in eine andere Wohnung gezogen, hat ihre Arbeitsstelle aufgegeben und die Beziehung zu ihrem Partner beendet. Sie hat eine Psychotherapie begonnen und wird medikamentös behandelt.

Eg. litt unter Verfolgungsängsten, insbesondere solange Kl. noch nicht gestellt war. Sie hatte Alpträume, konnte ihre Probleme jedoch ohne therapeutische Hilfe überwinden.

Zu den Kriterien für die Bemessung des Schmerzensgeldes nimmt das Gericht im Rahmen des Adhäsionsantrages Stellung (Landgericht Seite 264-268).
Bezogen auf die Bemessung der Summe, die T. von Kl. fordern kann, benennt das Gericht insbesondere

  • die schweren Folgen der Tat,
  • die Dauer des Tatgeschehens,
  • die Vielzahl der verwirklichten Sexualdelikte,
  • die besondere Erniedrigungen,
  • die erzwungene Mitwirkung an den Taten gegenüber E., die zur Inhaftierung von T. führte, und
  • die vorsätzliche Schädigung in besonders menschenverachtender Weise.


Demgegenüber sieht das Gericht zu Gunsten von Kl. in dem hohen Strafmaß mit anschließender Sicherungsverwahrung eine gewisse Genugtuungsfunktion für T., stellt aber zugleich fest, dass das Strafverfahren zur Verarbeitung des Geschehens nicht wirklich beitragen kann. Auch die schlechte wirtschaftliche Situation von Kl. führt nach Ansicht des Gerichts dazu, dass die hohe Entschädigungssumme ihn besonders trifft.

Auf Vergleichsrechtsprechung konnte aufgrund der Einzigartigkeit des Falles nicht zurückgegriffen werden. Auch eine einfache Addierung der Delikte ist nach Auffassung des Gerichts nicht geeignet.

Im Ergebnis hält das Gericht die Zahlung von 150.000 Euro Schmerzensgeld von Kl. an T. für angemessen.

Im Hinblick auf den Schmerzensgeldanspruch von E. gegen beide Angeklagte als Gesamtschuldner nennt das Gericht folgende Bemessungskriterien:

  • Die Dauer des Geschehens,
  • die Vielzahl der Sexualdelikte mit einer Vielzahl von Personen,
  • die erniedrigende Behandlung durch Schlafen im Käfig und andere "Strafaktionen",
  • den Zwang zur Mitwirkung an Taten zum Nachteil von Eg., und
  • die neun Vergewaltigungen durch K.


Während bei T. die schweren Folgen der Tat besonders gewichtet wurden, sieht das Gericht bei E. den Schwerpunkt in dem Zwang, als Prostituierte arbeiten zu müssen.

Das Gericht spricht ihr einen Anspruch auf 150.000 Euro Schmerzensgeld gegen Kl. und K. als Gesamtschuldner zu.

Für Eg. hält das Gericht aufgrund der besonders erniedrigenden Behandlung durch die Täter sowie die erlittenen Ängste 5.000 Euro für angemessen. Außerdem hebt das Gericht hervor, dass dem Grad des Verschuldens (hier zu sehen in dem Plan der Angeklagten, mit Eg. wie mit E. zu verfahren) bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ein eigenes Gewicht zukommt. Täter K. war in diesem Fall zwar weniger am Tatgeschehen beteiligt, ist aber aufgrund des gemeinsamen Tatplans als Mittäter für den gesamten materiellen wie immateriellen Schaden mitverantwortlich.

Kostenentscheidung
Im Rahmen der Entscheidung über die Höhe der Kosten bestimmt das Gericht, dass die Angeklagten auch die den Nebenklägerinnen durch die Entschädigungsansprüche entstandenen Kosten voll zu tragen haben, auch wenn das Gericht unter ihren Forderungen (500.000 bzw. 450.000 Euro) bleibt. Hierzu führt es aus, dass die Nebenklägerinnen sich aufgrund der Einzigartigkeit des Falles nicht an Vergleichswerten orientieren konnten und zudem denkbar ist, dass ihnen zivilrechtlich weitere Ansprüche zuerkannt würden. Kl. hatte sich mit seiner Revision insbesondere gegen die Kostenentscheidung gewandt, dies jedoch ohne Erfolg.

Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil des Landgerichts weitgehend. Lediglich bezüglich einer der Taten von Kl. ändert der Senat des Bundesgerichtshofs den Schuldspruch. Das Landgericht hatte die Tat, bei der T. eine Selbstbefriedigung simulieren sollte, als sexuelle Nötigung eingestuft. Da für eine sexuelle Nötigung jedoch Körperkontakt mit dem Täter oder Dritten erforderlich ist, sah der BGH nur eine besonders schwere Nötigung gegeben. Auswirkungen auf das Strafmaß hat dies nicht.

Entscheidungen im Volltext oder in Auszügen (Urteil des LG Verden, insges. 268 Seiten):

BGH_19_11_2009 (PDF, 107 KB, nicht barrierefrei)

LG_Verden_87_88_Tatfolgen (PDF, 1.038 KB, nicht barrierefrei)

LG_Verden_124_140_Aussage_Nebenklaegerin (PDF, 9.825 KB, nicht barrierefrei)

LG_Verden_147_149_Auswertung_SV_Gutachten (PDF, 1.650 KB, nicht barrierefrei)

LG_Verden_264_268_Adhaesionsantraege (PDF, 2.278 KB, nicht barrierefrei)

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