SG Hamburg, Urteil vom 23.6.2016
Aktenzeichen S 36 U 118/14

Stichpunkte

Richtungsweisende Präzedenzentscheidung im Sozialgerichtsverfahren um Leistungen aus der Gesetzlichen Unfallversicherung für Prostituierte; umfangreiche Ausführungen zur Einordnung der Arbeit der Prostituierten als abhängige Beschäftigung in Abgrenzung zur selbständigen Tätigkeit; eingeschränktes Weisungsrecht spricht gem. § 3 ProstG in der Sexarbeit nicht gegen Beschäftigungsverhältnis; gesetzwidrige Tätigkeit schließt Versicherungsschutz nicht aus

Zusammenfassung

Das Sozialgericht (SG) spricht einer Prostituierten Leistungen aus der Gesetzlichen Unfallversicherung zu. Die Frau war aus einem visumspflichtigen Land nach Deutschland gekommen, um der Prostitution nachzugehen. Anstatt der versprochenen legalen Arbeit arbeitete sie ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis und wurde vom Anwerber zunehmend unter Druck gesetzt und misshandelt. Als er sie für 2 Tage in einer Modellwohnung einschloss, um legale Papiere für sie zu besorgen, flüchtete sie durch einen Sprung vom Balkon im 2. Stock und zog sich schwere Verletzungen zu. Ihr Antrag auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wurde von der Berufsgenossenschaft abgelehnt. Es läge zwar ein Unfall vor, aber sie habe selbständig in der Prostitution gearbeitet und sei daher nicht, wie alle abhängig Beschäftigten, automatisch in der gesetzlichen Unfallversicherung gewesen. Auf die Klage der Frau stellt das SG fest, dass es sich bei dem Unfall um einen versicherten Arbeitsunfall handelt. Das Gericht macht umfassende Ausführungen zum Begriff der Beschäftigung.

Ein Beschäftigungsverhältnis erfordere nicht unbedingt einen Arbeitsvertrag. Es komme auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Kriterien für eine abhängige Beschäftigung sei die persönliche, in der Regel auch wirtschaftliche Abhängigkeit des oder der Beschäftigten sowie die Unterordnung unter das Weisungsrecht des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin, was Art, Zeit und Ort der Arbeitsausübung betrifft. Für selbständige Tätigkeit sprechen hingegen Kriterien wie Unternehmerrisiko, freie Verfügung über die eigene Arbeitskraft sowie frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit. Letzteres habe bei der Klägerin nicht vorgelegen. Vielmehr spreche für ein Beschäftigungsverhältnis, dass ihr Anwerber ihr die Freier vermittelt und sie jeweils zu Clubs oder Modellwohnungen hingefahren und wieder abgeholt und ihre Einkünfte einbehalten habe.

Das Gericht weist darauf hin, dass auch gemäß § 3 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten ein eventuell eingeschränktes Weisungsrecht des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin bei in der Sexarbeit Tätigen nicht gegen das Vorliegen einer Beschäftigung und damit versicherten Tätigkeit spricht.

Auch fehlende legale Papiere stehen einer Versicherung nicht entgegen, da Verbotswidrigkeit laut § 7 Abs. 2 SGB VII den Versicherungsschutz nicht ausschließt.

Die Klägerin sei auch zum Zeitpunkt des Unfalls bei ihrer Tätigkeit gewesen, da der Einfluss ihres Arbeitgebers durch das Einsperren sowie seine Anweisungen für die Zeit seiner Abwesenheit fortbestand.

 

Entscheidung im Volltext:

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