VG Stuttgart, Urteil vom 20.8.2015
Aktenzeichen A 7 K 1575/14

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsbeschneidung; umfassende Ausführungen zur Beschneidungspraxis in Nigeria; Genitalverstümmelung stellt politische Verfolgung dar; keine inländische Fluchtalternativen für alleinstehende Frauen ohne familiäre Unterstützung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einer von Genitalverstümmelung bedrohten Nigerianerin und ihrer Tochter die Flüchtlingsanerkennung zu. Die Klägerin ist Angehörige des Volkes der Edo. Sie war 2011 nach Deutschland gekommen um einen Sprachkurs und danach einen Masterstudiengang zu belegen. Da sie jedoch kurz nach ihrer Ankunft ihre Tochter bekam, konnte sie an dem Sprachkurs nicht weiter teilnehmen. Sie beantragte Asyl und gab in der Anhörung an, aus Nigeria geflohen zu sein, da ihr dort die Zwangsbeschneidung drohe. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte den Antrag abgelehnt. Es hielt die Angaben der Klägerin insgesamt nicht für glaubhaft.

Das VG sieht jedoch einen Anspruch der Klägerin und ihrer Tochter auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegeben. Es führt aus, dass eine drohende Genitalverstümmelung als politische Verfolgung im Sinne des § 60 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz, § 3 Asylgesetz anzusehen ist, da dadurch die sich weigernden Betroffenen in ihrer politischen Überzeugung getroffen und den Traditionen unterworfen werden sollen. Durch den § 3b Abs. 1 Nr. 4 aE Asylgesetz sollten gerade die Fälle von Genitalverstümmelung als Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die allein an das Geschlecht anknüpft, erfasst werden. Das Gericht erläutert, warum es die Ausführungen der Klägerin für glaubhaft hält und beruft sich dabei auch insbesondere auf hinzugezogene Gutachten zur Beschneidungspraxis in Nigeria. Danach sei dies im Bundesstaat Edo immer noch überwiegende Praxis, gegen die die Zentralregierung nicht vorgehe, obwohl sie sich offiziell dagegen ausspreche.

Eine Möglichkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative gebe es für die Klägerin nicht, da alleinstehende Frauen vielen, insbesondere wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt seien und ohne familiäre Unterstützung kaum Chancen hätten.

Das Gericht macht unter Berufung auf verschiedene Berichte Ausführungen zur Situation der Frauenrechte in Nigeria und stellt fest, dass die Klägerin bei Verweigerung der Beschneidung keine familiäre Unterstützung zu erwarten habe, ohne diese aber weder Unterkunft noch Arbeit finden würde.

Daher sei sie als Asylberechtigte anzuerkennen.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_stuttgart_20_08_2015 (PDF; 5300 KB, nicht barrierefrei)