LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.2.2017
Aktenzeichen L 6 AS 11 /17 B ER

Stichpunkte

Interessante sozialgerichtliche Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz wegen Ausschluss arbeitsuchender EU-Ausländer von Sozialleistungen; Senat sieht in neu eingeführtem generellen Leistungsausschluss arbeitsuchender Unionsbürgerinnen und -bürger mit minderjährigen schulpflichtigen Kindern Europarechtsverstoß; umfassende Auseinandersetzung mit der Gemeinschaftsrechtskonformität der deutschen Sozialgesetzänderung von Dezember 2016

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht (LSG) weist im Eilverfahren die Beschwerde eines Jobcenters gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Kiel zurück. Mit dem Beschluss war das Jobcenter zur vorläufigen Gewährung von Sozialleistungen an eine rumänische Familie verpflichtet worden. Die Familie ist seit 2013 in Deutschland. Der Vater hat verschiedentlich einige Monate gearbeitet, war aber im Wesentlichen arbeitsuchend, ebenso die Mutter. Zwei der vier Kinder gehen seit Anfang 2015 zur Schule. Das Jobcenter hatte für die Zeit von Dezember 2015 bis Mai 2016 Leistungen bewilligt. Das Jobcenter lehnt einen erneuten Antrag der inzwischen getrennt lebenden Frau auf Bewilligung von Hartz IV-Leistungen mit der Begründung ab, die Frau halte sich aus Gründen der Arbeitssuche in Deutschland auf und sei deswegen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nummer 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Sie habe auch kein vom Schulbesuch der Kinder abgeleitetes Aufenthaltsrecht, da die Eltern zur Zeit der Einschulung nicht die Kriterien der Arbeitnehmereigenschaft erfüllten. Das Sozialgericht Kiel hat der Familie auf Antrag der Frau im Rechtsschutzverfahren vorläufige Leistungen zugesprochen, da sich doch ein Aufenthaltsrecht aufgrund des Schulbesuchs der Kinder ergebe. Hierfür sei die zeitweilige Erwerbstätigkeit des Vaters ausreichend. Nach Art 10 der EU-Verordnung 492/2011 haben Kinder zu Schul- oder Berufsausbildungszwecken in dem Mitgliedstaat, in dem ein Elternteil arbeitet oder gearbeitet hat, ein Aufenthaltsrecht. Daraus ergibt sich für die sorgeberechtigten Eltern wiederum ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Zwar sei am 29.12.2016 durch Gesetzesänderung § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c SGB II eingeführt worden, nach dem Personen, die nur ein solches abgeleitetes Aufenthaltsrecht haben, von Leistungen ausgeschlossen sein sollen. Das SG hält aber die EU-Rechtskonformität für zweifelhaft und spricht deswegen vorläufige Leistungen zu.  Hiergegen wendet sich das Jobcenter mit seiner Beschwerde. Das LSG schließt sich der Argumentation des Sozialgerichts an. Es setzt sich umfassend mit der Frage der Gemeinschaftsrechtskonformität der neu eingeführten Paragraphen auseinander (S. 4f) und hält diese nach vorläufiger Würdigung für EU- rechtswidrig. Da im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof  (EuGH) erfolgen kann, hat das LSG nach einer Folgenabwägung vorläufig eine Leistungspflicht des Jobcenters angenommen.

Entscheidung im Volltext:

(PDF, 30 KB, nicht barrierefrei)