EGMR, Beschwerde vom 19.7.2018
Beschwerde Nr. 60561/14,`S.M. v. CROATIA´

Stichpunkte

Sehr bemerkenswerte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; erste Entscheidung zur Frage, ob Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auch auf Zwangsprostitution anwendbar; Gerichtshof erklärt Art. 4 nicht nur auf Menschenhandel sondern auch auf Ausbeutung der Prostitution und auch auf rein nationale Fälle anwendbar; umfassende Darstellung der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 4 EMRK; 5.000 EUR Entschädigung

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rügt eine Verletzung des  Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention durch die Kroatischen Strafverfolgungsbehörden und spricht der Antragstellerin eine Entschädigung in Höhe von 5.000 EUR zu.

Die Antragstellerin, S.M., ist Kroatin und lebt in Kroatien. 2012 erstattete sie Anzeige gegen T.M., einen früheren Polizeibeamten in Kroatien, er habe sie im Jahr 2011 mehrere Monate zur Prostitution gezwungen. Er habe sie zu Kunden gefahren oder Treffen mit diesen in ihrer gemeinsamen Wohnung arrangiert. Ihre Einnahmen habe sie mit ihm teilen müssen. Wenn sie sich widersetzt habe, sei sie von ihm psychisch und physisch unter Druck gesetzt worden. T.M. wurde angeklagt und der Antragstellerin der offizielle Status als Opfer von Menschenhandel zuerkannt.

Das Gericht war zwar überzeugt, dass T.M. einen Prostitutionsring organisiert hatte und  dass er die Antragstellerin in diesem Rahmen zu Freiern fuhr oder Treffen mit diesen in der gemeinsamen Wohnung organisierte und einen Teil der Einnahmen für sich behielt. Es sprach T.M. aber frei, unter anderem mit der Begründung, dass die Aussage der S.M. nicht überzeugend und sie nach Ansicht des Gerichts freiwillig der Prostitution nachgegangen war.

Der Einspruch hiergegen wurde abgelehnt, eine Verfassungsbeschwerde als unzulässig verworfen.

Auf ihre Beschwerde stellt der Europäische Gerichtshof zunächst fest, dass der Fall der Antragstellerin der erste ist, in dem es um die Entscheidung geht, ob Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) auch auf Zwangsprostitution anzuwenden ist.

Der Gerichtshof führt aus, dass unerheblich sei, ob vorliegend die Behandlung im Einzelnen als Sklaverei, Knechtschaft oder Zwangsarbeit einzustufen sei, da sowohl Menschenhandel als auch Ausbeutung der Prostitution, wie in Art. 3 lit. a des Palermo-Protokolls und Art. 4 lit. a des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels definiert, selbst in den Anwendungsbereich von Art. 4 EMRK fallen und dass dabei ohne Bedeutung sei, dass der Fall keine internationalen Bezüge aufweist. Der Gerichtshof verweist auf seine zu Art. 4 entwickelten Prinzipien insbesondere in den Fällen Siliadin gegen Frankreich (26.7.2005), Rantsev gegen Zypern und Russland (7.1.2010C. N. und V. gegen Frankreich (11.10.2012), C. N. gegen Großbritannien (13.11.2012), L.E. gegen Griechenland (21.1.2016), Chowdury und andere gegen Griechenland

(30.03.2017).

Er führt aus, dass Art. 4 der EMRK den Mitgliedstaaten positive Verpflichtungen in Bezug auf die Strafverfolgung bei Menschenhandel auferlegt. Dies betreffe sowohl entsprechende gesetzliche Regelungen aber auch die Durchführung von effektiven Strafverfolgungsmaßnahmen, wenn konkrete Umstände auf Menschenhandel hinweisen und zwar unabhängig von einer Anzeige der Betroffenen.

Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Bekämpfung des Menschenhandels im Hinblick auf Zwang in die oder Ausbeutung in der Prostitution in Kroatien hält der Gerichtshof für ausreichend. Auch sei der Antragstellerin hinreichende Unterstützung im Sinne von psychosozialer und rechtlicher Beratung gewährt worden. Ebenso habe sie auf ihren Wunsch ihre Aussage vor Gericht in Abwesenheit des Angeklagten tätigen können. Der Gerichtshof hat aber auch einige Kritikpunkte am Verfahren. So seien wichtige Zeugen, wie z.B. die Freier oder andere Personen, die mehr zur Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Antragstellerin hätten sagen können, nicht befragt worden. Nicht hinreichend geprüft worden sei auch die von der Antragstellerin erklärte Gewaltanwendung durch den Angeklagten und ihre finanzielle Abhängigkeit von ihm. Anstatt den möglichen Einfluss eines psychologischen Traumas auf ihre Aussagefähigkeit zu prüfen, sei ihre Aussage einfach als nicht überzeugend verworfen worden.

Indem das nationale Gericht zu dem Schluss kam, die Antragstellerin sei freiwillig der Prostitution nachgegangen und den Angeklagten freisprach, verkenne es, dass der Wille der Betroffenen nach den internationalen Regelungen, insbesondere der Europaratskonvention gegen Menschenhandel, irrelevant ist.

Der EGMR stellt daher einen Verstoß gegen Art. 4 EMRK fest und spricht der Antragstellerin eine Entschädigung in Höhe von 5.000 EUR zu.

Die Entscheidung fiel nicht einstimmig. Eine Richterin stimmt der Ausweitung des Anwendungsbereiches des Art. 4 EMRK auf Ausbeutung der Prostitution nicht zu. Die Begründung der abweichenden Meinung findet sich am Ende des Urteils.

 

Entscheidung im Volltext und Presseerklärung EGMR:

egmr_19_07_2018 (PDF, 712 KB, nicht barrierefrei)_urteil_englisch_pdf

egmr_19_07_2018 (PDF, 164 KB, nicht barrierefrei)_presseerklaerung_englisch