VG Arnsberg, Urteil vom 29.11.2018
Aktenzeichen 5 L 1831/18.A

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz gegen Dublin-Abschiebung; Gericht ordnet aufschiebende Wirkung der Klage einer Schwangeren gegen Abschiebung nach Italien an; Darstellung der EGMR- und BVerfG-Rechtsprechung zur Erforderlichkeit individueller Garantiezusagen bei (Dublin-) Abschiebungen besonders Schutzbedürftiger nach Italien; nach Verschärfung des italienischen Asylrechts keine Entbehrlichkeit der Garantiezusagen mehr

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage einer schwangeren Asylbewerberin gegen ihre Abschiebung im Dublin-Verfahren nach Italien an.

Der Asylantrag der über Italien eingereisten Klägerin war abgelehnt und ihre Abschiebung nach Italien angeordnet worden. Dagegen hatte sie Klage eingereicht. Nachdem sie eine Bescheinigung über eine bestehende Schwangerschaft eingereicht hat, sieht das Gericht Anhaltspunkte für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis gegeben. Das VG bezieht sich in seiner Begründung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie die veränderte Situation für Asylbewerber*innen in Italien durch das sog. Salvini-Dekret.

Der EGMR hatte in seiner sogenannten Tarakhel-Entscheidung vom 04.11.2014 festgestellt, dass, auch wenn in Italien keine systemischen Mängel im Asylsystem vorlägen, vor der Abschiebung von besonders Schutzbedürftigen, wie zum Beispiel Familien mit Kleinkindern, individuelle Garantien von den italienischen Behörden für eine angemessene Unterbringung einzuholen seien.
Ebenso hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 17.09.2014 festgestellt, dass die deutschen Behörden – in jedem Stand des Verfahrens – von Amts wegen sich aus dem Gesundheitszustand eines Ausländers ergebende Abschiebungshindernisse zu beachten haben. In Einzelfällen sei, so erforderlich, von der Abschiebung abzusehen oder mit den Behörden des Zielstaats Kontakt aufzunehmen, um erforderliche Vorkehrungen zu treffen.
Unter Verweis auf weiteren Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte stellt das VG darüber hinaus fest, dass das Bundesamt bei dem Erlass einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34 Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes sowohl zielstaats- als auch inlandsbezogene und auch nachträglich aufgetretene Abschiebungshindernisse zu prüfen habe. Bei deren Vorliegen habe das Bundesamt die Abschiebungsanordnung aufzuheben beziehungsweise die Ausländerbehörde aufzufordern, von deren Vollziehung abzusehen. Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung sei bei einer konkreten Gefahr durch die Abschiebung gegeben, die nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen werden kann. Dies umfasse auch Vorkehrungen dafür, dass nach der Ankunft erforderliche Hilfen zur Verfügung stünden. Grundsätzlich sei zwar der/die Ausländer*in auf die allgemeinen üblichen Standards zu verweisen. Da Ausländer*innen bei einer Rückführung in einen Drittstaat nicht auf soziale Netze wie Familie zur Unterstützung zurückgreifen können, sei der aktuellen Berichterstattung zur Situation in Italien hinsichtlich von Kapazitätsengpässen in der Unterbringung Rechnung zu tragen. Insbesondere bei der Überstellung von Familien seien Gesundheitsgefahren auszuschließen. Vorliegend bestände zwar noch keine Familie, dennoch gelten die Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch für schwangere Asylbewerberinnen, da eine besondere Schutzbedürftigkeit vorläge.
Daher hätte vorliegend eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden eingeholt werden müssen, dass eine sichere Unterbringungsmöglichkeit gewährleistet sei.
Eine solche Garantieerklärung sei nicht etwa entbehrlich gewesen durch die 2015, nach der Tarakhel-Entscheidung, von Italien abgegebene allgemeine Erklärung, für eine angemessene und altersgerechte Unterbringung von in Dublin-Verfahren rücküberführter Familien mit Kindern Sorge zu tragen.
Der EGMR hatte dies in seiner Entscheidung von 04.10.2016 zwar noch als ausreichend betrachtet, so dass die zu überstellenden Asylbewerber*innen konkrete Umstände vortragen müssten, aus denen hervorgehe, dass eine Wahrung der Familieneinheit durch eine gemeinsame Unterbringung nicht gewährleistet sei.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts kann aber nicht mehr von einer Entbehrlichkeit von Garantiezusagen für den Einzelfall ausgegangen werden, nachdem Italien sein Asylrecht drastisch verschärft hat. Das VG bezieht sich hierbei auf Presseberichte zum sog. Salvini-Dekret, nach dem wesentliche Umgestaltungen des Unterbringungssystems für Asylbewerberinnen vorgenommen und Zugang zu den Unterbringungen nur noch Personen mit zuerkanntem Schutzstatus oder unbegleitete Minderjährige haben sollen.
Das Gericht sieht daher bei summarischer Prüfung ein zielstaatsbezogenes Abschiebehindernis gegeben.

 

Entscheidung im Volltext:
 

vg_arnsberg_29_11_2018 (PDF, 1,3 MB, nicht barrierefrei)