LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 14.2.2018
Aktenzeichen L 7 AS 2380/17 B ER & L 7 AS 2381/17 B

Stichpunkte

Herausragende Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz im Sozialgerichtsverfahren; Gericht spricht bulgarischer Zwangsprostituierter wegen Aufenthalts aus humanitären Gründen zur psychosozialen Stabilisierung Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen zu; Ausführungen zur Anwendung des AufenthG auf EU-Angehörige nach Günstigkeitsregelung des FreizügG/EU; Rückkehr nach Bulgarien nicht zumutbar; `vorübergehender´ Aufenthalt gem. § 25 Abs. 4 AufenthG kann sich auch über mehrere Jahre erstrecken

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht (LSG) spricht der Klägerin und ihrer Tochter Hartz-IV-Leistungen sowie Prozesskostenhilfe zu.

Die Klägerin ist Bulgarin und lebt seit 15 Jahren mit Unterbrechungen in Deutschland. Nach ihren Angaben ist sie während der gesamten Zeit von einem bulgarischen Zuhälter zur Prostitution gezwungen worden. Ihre Einnahmen habe sie komplett an diesen abgeben müssen. Nur Wohnung und Essen sei ihr gewährt worden. Als Analphabetin habe sie sich nicht dagegen wehren können. Als sie aufgrund ihrer Schwangerschaft nicht mehr arbeiten konnte und der Zuhälter gedroht habe, ihr das Kind wegzunehmen, sei sie geflüchtet und so mit ihrem Kind in ein Frauenhaus gekommen. Ihr Antrag auf Leistungen nach dem SGB II wurde abgelehnt, da sie nur über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche verfüge und daher gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Daraufhin stellte die Klägerin im einstweiligen Rechtsschutz einen Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

Das Sozialgericht (SG) lehnte einen Anspruch der Klägerin sowohl auf Leistungen als auch auf Prozesskostenhilfe ab. Die Klägerin verfüge weder über ein Daueraufenthaltsrecht noch über eines als Arbeitnehmerin. Da sie nie bei einer Meldebehörde gemeldet gewesen sei, könne sie sich auch nicht auf einen Aufenthalt in Deutschland von mindestens 5 Jahren berufen. Hiergegen erhob die Klägerin Beschwerde.

In der Zwischenzeit hatte sie Überbrückungsleistungen erhalten für den Zeitraum, in dem ihr aufgrund des Mutterschutzes eine Rückreise nach Bulgarien nicht zumutbar war.

Im Beschwerdeverfahren hatte die zuständige Betreuerin des Frauenhauses erklärt, die Angaben der Frau, Opfer von Zwangsprostitution zu sein, entsprächen ihren Angaben vor Gericht. Im Übrigen sei sie traumatisiert und benötige mindestens 6 Monate zur psychosozialen Stabilisierung.

Das LSG sieht anders als das SG einen Leistungsanspruch im einstweiligen Rechtsschutz gegeben. Zum Einen sei die Frau hilfebedürftig. Dies sei nicht durch erhaltene Zuwendungen aus der Mutter-Kind-Stiftung ausgeschlossen. Vorübergehende karitative Zuwendungen ließen eine Hilfsbedürftigkeit nicht entfallen.

Die Frau könne sich außerdem neben dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche auch auf ein Aufenthaltsrecht aus dringenden humanitären bzw. persönlichen Gründen gem. § 25 Abs. 4 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) in Verbindung mit § 11 Abs. 1 Satz 11 des Freizügigkeitsgesetzes EU (FreizügG/EU) berufen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU finde das AufenthG auch auf EU-Angehörige Anwendung, wenn es diesen eine günstigere Rechtsstellung vermittelt. Das LSG verweist hierzu auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach der ein solches Aufenthaltsrecht, das einen Leistungsanspruch vermittelt, von den Behörden auch ohne Einschaltung der Ausländerbehörden zu prüfen sei.

Im Falle der Klägerin sieht das LSG einen möglichen Aufenthalt aus humanitären und persönlichen Gründen für ausreichend glaubhaft gemacht. Der Senat hat aufgrund der Darstellung sowohl der Klägerin als auch ihrer Betreuerin keinen Zweifel daran, dass die Klägerin zur Prostitution gezwungen wurde. Es sei ihr momentan nicht zumutbar, ihr geschütztes Umfeld zu verlassen und nach Bulgarien zurück zu kehren, wo sich die Zuhälter befänden, vor denen sie geflohen sei. Ebenso nachvollziehbar sei die Schilderung der Betreuerin, dass die Klägerin eine längerfristige psychosoziale Betreuung benötige, die ihr im Frauenhaus gewährt werden könne.

Das Gericht räumt ein, dass zwar durch § 25 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich nur ein vorübergehender Aufenthalt vermittelt werden könne und eine Ausnahme vom Leistungsausschluss des § 7 SGB II ein längerfristiges Aufenthaltsrecht voraussetze. Unter Verweis auf weitere Rechtsprechung führt das LSG aber aus, dass ein `vorübergehender´ Aufenthalt nicht mit einem `kurzen´ gleichzusetzen sei, sondern sich auch über mehrere Jahre erstrecken könne.

Für die Klägerin hält das LSG es für glaubhaft, dass für ihre Stabilisierung ein längerer Zeitraum als 6 Monate erforderlich sei, Bemühungen zur Integration in den Arbeitsmarkt sinnvoll und erfolgversprechend seien und eine längerfristige Bleibeperspektive eröffnen.

 

Entscheidung im Volltext:

lsg_nrw_14_02_2018 (PDF, 97 KB, nicht barrierefrei)