BGH, Beschluss vom 2.7.2020
Aktenzeichen 4 StR 678/19

Stichpunkte

Erste höchstrichterliche Entscheidung im Strafverfahren zur Frage, wann ein Opfer sich in einer `schutzlosen Lage´ befindet; Senat hält rein objektive Bewertung für ausreichend; Ausführungen zur 50. Reform des Sexualstrafrechts; Schwerpunkt Schutz der Selbstbestimmung über Art und Weise sexueller Kontakte; § 177 Abs. 5 StGB setzt keine Nötigung voraus

Zusammenfassung

Der Vierte Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) hebt auf die Revision der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin ein Urteil des Landgerichts (LG) auf.

Das LG hatte den Angeklagten wegen Kindesmissbrauchs und sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. Der Mann hatte 2018 zwei Mädchen sexuell missbraucht. Hierzu hatte er die Kinder jeweils in leerstehende, verlassene Gebäude gebracht, bzw. gelockt. Das Landgericht hatte seine relativ niedrige Strafe damit begründet, dass die Mädchen sich nicht in einer schutzlosen Lage befunden hätten.

Staatsanwaltschaft und Nebenklägerin begründeten jedoch ihre Revision damit, es sei sehr wohl ein sexueller Übergriff unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage gegeben und damit der Qualifikationstatbestand des § 177 Abs. 5 Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) erfüllt.

Der Senat stimmt dem zu und stellt fest, das LG sei von einem zu engen Verständnis des durch die Strafrechtsreform 2016 eingeführten § 177 Abs. 5 Nr. 3 StGB ausgegangen. Dieser setze voraus, dass der Täter eine Lage ausnutze, in der das Opfer ihm schutzlos ausgeliefert sei. Wie dies auszulegen sei, sei bislang höchstrichterlich noch nicht geklärt.

Umstritten sei insbesondere, ob der Begriff der "schutzlosen Lage" rein objektiv zu bestimmen sei oder es auch einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedürfe.

Der Senat macht umfassende Ausführungen zu der Gesetzesreform und sieht einen Paradigmenwechsel hin zu einem besseren Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, indem die Betroffenen selbst über das "Ob", "Wann" und "Wie" eines sexuellen Kontakts bestimmen. In diesem Rahmen sei nach dem überarbeiteten § 177 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB) keine Nötigung des Tatopfers mehr erforderlich. Kern des strafrechtlichen Vorwurfs bei § 177 StGB sei nicht die Beugung des Willens des Opfers durch Nötigung, sondern die Missachtung des entgegenstehenden Opferwillens.

Der Senat weist zur Neuentscheidung an das LG zurück.

Bgh_02_07_2020 (PDF, 78 KB, nicht barrierefrei)

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