VG Berlin, Urteil vom 30.3.2021
Aktenzeichen VG 31 K 324/20

Stichpunkte

Interessante verwaltungsgerichtliche Entscheidung um fehlende oder fehlerhafte Anhörung im Asylverfahren; Anhörung von Betroffenem sexueller Gewalt ohne Zuziehung von Sonderbeauftragten für Betroffene geschlechtsspezifischer Verfolgung führt zur Aufhebung der Asylentscheidung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) hebt den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf.

Der Kläger stammt aus dem Senegal und war 2018 über Frankreich nach Deutschland eingereist. Er hatte angegeben, von seinen Eltern als Zehnjähriger in eine Koranschule gegeben worden zu sein. Von dort sei er wegen massiver Misshandlungen geflohen und habe danach vom Betteln gelebt. Außerdem sei er mehrfach vergewaltigt worden, worüber er aber nicht reden wolle. Er war vom Sonderbeauftragten für Traumatisierte und Folteropfer angehört worden. Der Anhörende hatte erfolglos versucht, einen Sonderbeauftragten für Betroffene geschlechtsspezifischer Verfolgung in die Anhörung einzubeziehen. Lediglich im Rahmen der Bescheidungsvorbereitung war eine solche Sonderbeauftragte beteiligt worden, indem sie das Anhörungsprotokoll las. Die Sonderbeauftragte stellte auf dieser Basis fest, dem besonderen Schutzbedürfnis des Klägers sei Rechnung getragen worden. Die von dem Kläger geschilderten Vergewaltigungen aus dem Jahr 2005 seien nicht mehr entscheidungsrelevant.

Der Asylantrag des Klägers wurde abgelehnt und seine Abschiebung in den Senegal angedroht. Hiergegen richtet sich seine Klage. Er beruft sich auf die fehlende Anhörung durch einen*eine Sonderbeauftragte*n für Betroffene geschlechtsspezifischer Verfolgung, auch habe er keine Informationen zu Hilfs- und Beratungsangeboten erhalten.

Das VG führt aus, von der grundsätzlichen Verpflichtung der Verwaltungsgerichte auch im asylrechtlichen Verfahren `durchzuentscheiden´, also eine Entscheidung in der Sache zu fällen, sei in besonderen Fällen abzuweichen, insbesondere, wenn bestimmte mit dem behördlichen Verfahren verbundene Verfahrensgarantien im gerichtlichen Verfahren nicht nachgeholt werden könnten. Einer Entscheidung ohne Durchführung einer Anhörung sei eine unzulänglich durchgeführte Anhörung gleichzustellen. Eine Nachholung der Anhörung

im gerichtlichen Verfahren sei nicht möglich, soweit das Unionsrecht, so wie vorliegend, besondere Anforderungen an das Verfahren stelle. Der Kläger habe sich insbesondere auf seine Rechte aus der sog. Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU) berufen. Unter Verweis auf die Entscheidung des EuGHs vom 16.7.2020 Aktenzeichen C-517/17 führt das VG aus, das Gericht könne eine unter Verstoß gegen unionsrechtliche Vorgaben zustande gekommene Entscheidung der Behörde nicht bestätigen, ohne selbst den Schutzsuchenden angehört zu haben.

Die Verletzung der Rechte des Klägers aus der Verfahrensrichtlinie als Person mit schweren sexuellen Gewalterfahrungen machten den Bescheid des BAMF rechtswidrig.

Indem die Anhörung des Klägers ohne eine für geschlechtsspezifische Verfolgung geschulte Anhörungsperson durchgeführt worden sei, habe der Kläger keine ausreichende Möglichkeit gehabt, seine Geschichte darzustellen.

Sein Asylverfahren sei daher ab Verfahrensmangel erneut durchzuführen.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_berlin_30_03_2021 (PDF, 656 KB, nicht barrierefrei)

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