VG Frankfurt Oder, Beschluss vom 25.2.2021
Aktenzeichen 2 L 17/21.A

Stichpunkte

Interessante Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz gegen Dublin-Rücküberstellung einer Alleinerziehenden mit Säugling nach Polen; Abschiebehaft von über 16 Monaten Verstoß gegen Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 und Folterverbot aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK); umfassende Ausführungen zur EGMR-Rechtsprechung

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) ordnet die aufschiebende Wirkung der Klage gegen eine Dublin-Rücküberstellung nach Polen an.

Die Antragstellerinnen sind eine alleinerziehende Mutter und ihre minderjährige Tochter russischer Staatsangehörigkeit. Die beiden waren in Polen über 16 Monate in Abschiebehaft genommen worden. Das VG führt aus, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe in seiner Rechtsprechung festgestellt, dass durch Art. 8 der EMRK nicht nur das Zusammenleben der Familie, sondern auch die Art des Familienlebens geschützt sei, was den Staaten eine Verpflichtung auferlege, Familien ein normales Zusammenleben zu ermöglichen. Da die Inhaftierung einer Familie das normale Zusammenleben beeinträchtige, sei dies nur unter engen, in Art. 8 Abs. 2 EMRK vorgegebenen Fällen möglich, etwa, wenn dies gesetzlich vorgesehen oder zum Schutze der Gesellschaft notwendig sei.

Das VG sah zwar einen legitimen Zweck in der Inhaftierung zur Sicherung der Durchführung des Asylverfahrens in Polen bzw. einer Abschiebung in die russische Föderation, es fehle aber an einer Verhältnismäßigkeit. Der EGMR habe bezogen auf die Verhältnismäßigkeit eine übergeordnete Berücksichtigung der Interessen der Kinder betont. Dies finde Ausdruck in Art. 11 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie (2013/33EU) und Art. 17 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG). Danach dürften Minderjährige nur im äußersten Fall, wenn es keine alternativen Möglichkeiten gebe, in Haft genommen werden und auch nur für eine kürzest mögliche Dauer.

Hiergegen habe Polen massiv verstoßen, indem es die Mutter mit ihrer damals nur wenige Monate alten Tochter über rund 16 Monate in einem geschlossenen Zentrum unterbrachte. Für die Tochter sei damit auch ein Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung aus Art. 3 der EMRK gegeben. Diesbezüglich habe der EGMR festgestellt, zur Frage des Überschreitens der Schwelle zur Folter sei auf das Alter des Kindes, die Dauer der Unterbringung und die Geeignetheit der Infrastruktur für die Unterbringung von Kindern abzustellen.

Das VG stellt fest, dass die Haftumstände in dem betreffenden Zentrum zwar als zufriedenstellend und sogar als kindgerecht beschrieben würden und der EGMR diese in einem anderen Verfahren nicht beanstandet habe, gleichwohl sei wegen des so jungen Alters der Tochter und der langen Haftdauer die Erheblichkeitsschwelle überschritten. Das VG verweist hierzu auf eine Entscheidung des EGMR (Popov vs France vom 19.01.2012), in der der Gerichtshof diesbezüglich für den Fall einer Familie mit einem ebenfalls erst wenige Monate alten Kind bei einer Haftdauer von 15 Tagen unter unzureichenden Bedingungen die Schwelle zur Anwendung des Art. 3 EMRK überschritten sah. Nach diesen Maßstäben hält das VG eine Haftdauer von 16 Monaten selbst unter `guten´ Bedingungen für ein nur wenige Monate altes Kind für nicht hinnehmbar, da mit erheblichen psychischen Beeinträchtigungen des Kindes zu rechnen sei.

Zur Frage, ob für Mutter und Tochter im Fall der Rückkehr nach Polen eine erneute Inhaftierung drohe, führt das VG aus, es sei in Polen zwar nicht von einer automatischen Inhaftierung auszugehen, im Fall der Klägerin sei jedoch zu berücksichtigen, dass sie aufgrund ihrer bereits erfolgten Inhaftierung in Polen sozusagen `vorverfolgt´ ausgereist sei. Zwar habe Polen einen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung der Vorgaben des EGMR, insbesondere zur Vermeidung der Inhaftierung von Familien mit Kindern verabschiedet, dessen Umsetzung sei jedoch mangelhaft. Abschiebehaft sei rechtlich immer noch für 18 Monate zulässig und würde auch durchgeführt.

Da das Gericht eine erneute, konventionsrechtswidrige Inhaftierung nicht ausschließen kann und diese sowohl für die Mutter als auch für das Kind für retraumatisierend hält, ordnet es aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung an.

 

Entscheidung im Volltext:

vg_frankfurt_oder_25_02_2021 (PDF, 82 KB, nicht barrierefrei)