VG Osnabrück, Urteil vom 20.8.2020
Aktenzeichen 4 A 304/17

Stichpunkte

Nur teilweise positive Entscheidung im Asylrechtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung bzw. Abschiebeschutz für eine nigerianische Menschenhandelsbetroffene; Gericht lehnt ohne Auseinandersetzung mit entgegenstehender Rechtsprechung Einstufung rückkehrender Menschenhandelsopfer als soziale Gruppe ab; aber Abschiebeschutz wegen fehlender Möglichkeit der Existenzsicherung für Alleinerziehende; Ausführungen zur wirtschaftlichen Situation Nigerias

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht Osnabrück (VG) hebt einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf und verpflichtet dieses für eine Nigerianerin Abschiebeschutz festzustellen. Die Klägerin war 2015 nach Deutschland gekommen, wo ihr Sohn geboren wurde. 2016 stellte sie einen Asylantrag für sich und ihren Sohn. Bei ihrer Anhörung gab sie an, Nigeria 2009 verlassen zu haben. Sie sei von einem Mann mit dem Versprechen, dort als Friseurin arbeiten zu können, nach Tschechien gebracht worden. Vor ihrer Ausreise, sei sie einem Voodoo-Ritual unterzogen worden. In Tschechien habe sie der Prostitution nachgehen müssen. Sie habe bis zur Festnahme des Mannes und seiner Frau für diese gearbeitet. Auf Anweisung des Bruders des Täters, habe sie nicht gegen diesen ausgesagt. Der Mann sei zwischenzeitlich nach Nigeria abgeschoben worden und sie fühle sich von ihm bedroht, da er noch 40.000 € für die Ausreise von ihr fordere.

Ihr Asylantrag wurde abgelehnt und die Abschiebung angedroht. In ihrer Klage hiergegen verweist die Betroffene darauf, dass der Täter nach Nigeria abgeschoben wurde und sie dort bedroht sei. Ihre Mutter habe bereits Anrufe erhalten, in denen ihr (der Klägerin), für den Fall der Nichtrückzahlung der 40.000 € der Tod angedroht wurde. Im Übrigen könne sie für sich und ihre zwei Kinder ohne Unterstützung der Familie das Existenzminimum nicht aufbringen.

Das Gericht lehnt die Flüchtlingsanerkennung ab, spricht jedoch Abschiebeschutz zu. Einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sieht das VG nicht, da keine asylrelevante Verfolgung gem. § 3 Asylgesetz (AsylG) vorliege, weil sich die Klägerin nicht auf eine Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe berufen könne.

Nach Ansicht des VGs fehlt es für die Einstufung der nach Nigeria zurückkehrenden, von Menschenhandel betroffenen Frauen als soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an einer deutlich abgrenzbaren Identität der Gruppe. Die Verfolgungshandlung knüpfe vielmehr an eine persönliche Täter-Opfer Beziehung und nicht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe an.

Das VG setzt sich dabei nicht mit entgegenstehender Rechtsprechung auseinander

(s. insbesondere VG Stuttgart vom 17.01.2020, das in Anwerbung und Ausbeutung in der Zwangsprostitution sehr wohl eine asylrelevante Verfolgung sieht und auch eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe annimmt, da nach Nigeria zurückkehrende Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind, von den Täter*innenkreisen verfolgt würden und Gefahr liefen, erneut Opfer von Menschenhandel zu werden. Zudem würden sie von ihren Familien und dem sozialen Umfeld diskriminiert. Es handele sich also um eine von außen von der Gesellschaft wahrnehmbare und ausgegrenzte Gruppe (Ebenso u.a. VG Würzburg 17.11.2015mit Verweis auf die Richtlinien des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) zum Schutz von Opfern von Menschenhandel und entsprechend gefährdeter Personen vom 7. April 2006, VG Regensburg 19.10.2016, VG Stuttgart 16.05.2014, VG Wiesbaden 14.03.2011). 

Das VG Osnabrück ist außerdem der Ansicht, der nigerianische Staat gewähre durch die Einrichtung der Behörde National Agency for Prohibition of Trafficking in Persons (NAPTIP) 2003 ausreichend Schutzmöglichkeiten für Rückkehrerinnen (S. 8). Auch hier setzt das VG Osnabrück sich nicht mit entgegenstehender Rechtsprechung, wie z.B. der Entscheidung des VG Stuttgart (17.01.2020 s.o.) auseinander, in der ausführlich dargelegt wird, dass der NAPTIP keine Schutzmöglichkeit biete, da er unterfinanziert und die Opfereinrichtungen in schlechtem Zustand und dort aufhältige Frauen Stigmatisierungen und Gefährdung durch die Menschenhändler*innenkreise ausgesetzt seien (ebd. S. 9).

Das VG Osnabrück lehnt für die Klägerin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab.

Es erkennt aber auf den Hilfsantrag Abschiebeschutz gem. § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zu, da die schwangere Klägerin mit zwei kleinen Kindern nicht in der Lage sein würde, das Existenzminimum für sich und die Familie zu sichern und somit einer unmenschlichen Behandlung gem. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ausgesetzt sei. Unter Verweis auf die `Tarakhel-Entscheidung´ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 04.11.2014führt das Gericht aus, dass das für die Annahme einer unmenschlichen Behandlung erforderliche Mindestmaß erreicht sei, wenn die Rückkehrer*innen nicht in der Lage seien, ihren existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. Hierbei sei auf den Einzelfall abzustellen. Das VG Osnabrück macht umfassende Ausführungen zu den schwierigen, durch die Corona-Pandemie noch verschärften wirtschaftlichen Verhältnissen in Nigeria mit wachsender Massenverelendung (S. 12f.).

Im Falle der alleinerziehenden, schwangeren Klägerin mit zwei Kleinkindern, ohne familiäre Unterstützung sei davon auszugehen, dass sie in der patriarchalen Gesellschaft Nigerias Diskriminierung ausgesetzt sei und weder Unterkunft noch Arbeit finden und so das erforderliche Existenzminimum nicht erwirtschaften könne.

vg_osnabrueck_20_08_2020 (PDF, 1,9 MB, nicht barrierefrei)

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