EuGH, Urteil vom 10.6.2021
Aktenzeichen C-901/19

Stichpunkte

Klarstellende Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren über die Kriterien zur Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG in Fällen ernsthafter individueller Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts; Vereinbarkeit der Auslegung von § 4 AsylG mit Art. 15 c RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie); quantitative Ermittlung des Tötungs- oder Verletzungsrisikos kann nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium sein; umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalles

Zusammenfassung

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt anlässlich eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg klar, dass eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos, ausgedrückt durch das Verhältnis der Zahl der Opfer in dem betroffenen Gebiet zur Gesamtzahl der Bevölkerung dieses Gebiets, nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Asylgesetz (AsylG) sein kann; nur dieses Kriterium anzusetzen stünde nach  Ansicht des EuGH Art. 15 c RL 2011/95/EU entgegen, denn es könnten Schutzsuchende ausgeschlossen werden, die tatsächlich und individuell bedroht sind.

Zwei afghanische Zivilpersonen, die aus der Provinz Nangarhar stammen, hatten Asylanträge gestellt, die durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt worden sind. Auch ihre Klagen vor den Verwaltungsgerichten (VG) Karlsruhe und Freiburg (Deutschland) waren erfolglos. Die Kläger*innen legten Berufung beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg ein. Die Richter*innen des VGH waren der Ansicht, dass subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Diese Entscheidung wäre jedoch von der Praxis des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) abgewichen. Das BVerwG habe bis dato eine Rechtsprechung verfolgt, die sich erheblich von der Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten und der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) unterschied: Das BVerwG forderte für die Feststellung einer ernsthaften individuellen Bedrohung zwingend eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos, das im Ergebnis einen bestimmten Mindestwert erreichen müsse. Wenn diese Schwelle nicht überschritten werde, läge nach dem BVerwG auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung vor. Daher setzte der VGH die Verfahren aus und fragte den EuGH, ob die Auffassung des BVerwG mit Unionsrecht vereinbar ist.

Die beiden afghanischen Zivilpersonen waren nicht aufgrund ihrer persönlichen Umstände von der in der Provinz Nangarhar herrschenden Gewalt spezifisch betroffen. Vielmehr liefen die beiden im Fall ihrer Rückkehr tatsächlich Gefahr, durch konfliktbedingte willkürliche Gewalt allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Das schloss der VGH Baden-Württemberg aus der allgemeinen Sicherheitslage in der Provinz, insbesondere aus dem Umstand, dass in dieser Region Kämpfe zwischen verschiedenen, stark fragmentierten Konfliktparteien (einschließlich Terrorgruppen), die stark mit der Zivilbevölkerung verwoben seien, stattfänden. Keine Partei sei in der Lage, die Region effektiv zu kontrollieren oder die Zivilbevölkerung vor Übergriffen sowohl der Aufständischen als auch der staatlichen Kräfte zu schützen. Akzeptable Zufluchtsalternativen im Inneren des Landes hielt der VGH Baden-Württemberg für beide Personen aufgrund ihrer vulnerablen Profile für unzumutbar.

Nach der Qualifikationsrichtlinie ist subsidiärer Schutz zu gewähren, wenn ein ‘ernsthafter Schaden‘ im Herkunftsland drohe. In der dritten Variante des Art. 15 c i. V. m. Art. 2 f der Qualifikationsrichtlinie muss eine ‘ernsthafte individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt‘ im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bestehen.

Der EuGH betont mit Verweis auf seine frühere Rechtsprechung (EuGH, Urteil vom 17.02.2009, Aktenzeichen C-465/07, Elgafaji gegen Niederlande), dass eine ‘ernsthafte individuelle Bedrohung‘ nicht voraussetzt, dass die schutzsuchende Person beweist, dass sie aufgrund ihrer persönlichen Situation spezifisch betroffen ist. Die Bedrohung bezieht sich vielmehr auf schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich die Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein.

Eine Mindestanzahl Betroffener, wie sie das BVerwG für die Feststellung der Bedrohung fordert, ist nach Ansicht des EuGH für die Bedrohungsprognose zwar relevant, sie kann aber nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium sein. Zahlen über Verletzte und Tote seien aufgrund der Informationslage nahe den Gebieten eines bewaffneten Konflikts regelmäßig schwer zu ermitteln. Wenn die Mindestanzahl Betroffener das einzige ausschlaggebende Kriterium sei, würden die Mitgliedstaaten gegen ihre Pflicht verstoßen, diejenigen Personen zu bestimmen, die den subsidiären Schutz tatsächlich benötigen. Auch das sogenannte ‘forum shopping‘ sei begünstigt, d.h. eine Situation, in der sich antragstellende Personen in Mitgliedstaaten begeben, die das Kriterium einer Mindestanzahl nicht anwenden oder geringere Schwellen heranziehen. Eine solche Sekundärmigration sollte durch die Richtlinie gerade eingedämmt werden.

Schließlich stellt der EuGH fest, dass der Begriff ‘ernsthafte individuelle Bedrohung‘ weit auszulegen sei. Es erfordere eine umfassende Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation des Herkunftslandes des Antragstellers kennzeichnen. Der EuGH verweist an dieser Stelle auf Art. 4 Abs. 3a) der Richtlinie, nach dem alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen zu berücksichtigen sind, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind. Er zählt die zu berücksichtigenden Faktoren wie folgt auf: die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der beteiligten Streitkräfte, die Dauer des Konflikts, das geografische Ausmaß der Lage willkürlicher Gewalt, der tatsächliche Zielort des Antragstellers bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder Gebiet und die eventuelle (absichtliche) Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen.

Entscheidung im Volltext:

EuGH_10_06_2021.pdf (PDF, 126 KB, nicht barrierefrei)