Kein Verstoß des Sexkaufverbotes in Frankreich gegen Art. 8 EMRK; keine Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung und des Rechts auf Achtung des Privatlebens; gesetzgeberischer Spielraum
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellt fest, dass Frankreich mit dem gesetzlichen Verbot des Kaufs sexueller Handlungen (Sexkaufverbot) nicht gegen Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen habe.
Frankreich hatte im April 2016 einen Straftatbestand eingeführt, der den Erwerb sexueller Dienstleistungen verbietet. Ein Ziel war unter anderem, Menschenhandel zu verringern und Personen in der Sexarbeit zu unterstützen.
Im Juni 2018 beantragten mehrere Nichtregierungsorganisationen und fünf Sexarbeiter*innen, darunter vier der 261 Antragsteller*innen dieses Verfahrens, die Aufhebung einer Verordnung, die aufgrund dieses Gesetzes erlassen worden war. Die Aufhebung wurde durch den französischen Premierminister abgelehnt und die Antragssteller*innen legten daraufhin Rechtsmittel beim französischen Verfassungsrat ein. Dieser prüfte die angefochtenen Bestimmungen des französischen Strafgesetzbuchs im Lichte des Rechts auf Achtung des Privatlebens und des Rechts auf persönliche Autonomie, insbesondere auf sexuelle Freiheit, und entschied im Februar 2019, dass sie mit der Verfassung vereinbar sind.
Daraufhin reichten mehrere Verbände und 261 Personen vor dem EGMR Klage ein und machten geltend, dass das fragliche Gesetz, das allgemein und absolut formuliert sei, eine Situation geschaffen habe, die sie zu einer heimlichen und isolierten Arbeit zwinge. Sie seien dadurch verstärkt Gewalt und erhöhten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Zudem sei ihre Fähigkeit, ihr Privatleben selbst zu bestimmen, beeinträchtigt und damit ihre persönliche Autonomie und sexuelle Freiheit. Sie machten daher Verstöße gegen Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 3 (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privatlebens) der EMRK geltend.
Der Gerichtshof befasst sich zunächst mit der Frage, ob die Kriminalisierung des Kaufs sexueller Handlungen eine Einmischung in das Recht auf Privatleben und persönliche Autonomie der Beschwerdeführer*innen darstellt. Er stellt fest, dass sowohl der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) als auch der Staatsrat (Conseil d’État) die umstrittenen Bestimmungen des Strafgesetzbuches überprüft haben und zu dem Schluss gekommen sind, dass diese Bestimmungen im Interesse der Allgemeinheit nicht als übermäßiger Eingriff gelten können. Der Gerichtshof bestätigt diese Einschätzung, erkennt jedoch an, dass die Kriminalisierung einen Eingriff in das Privatleben sowie die persönliche Autonomie und sexuelle Freiheit der Beschwerdeführer*innen darstellt. Dieser Eingriff sei allerdings gerechtfertigt und beruhe auf einer gesetzlichen Grundlage, nämlich auf den 2016 eingeführten Artikeln des französischen Strafgesetzbuches.
Die von der Regierung dargelegten Ziele dieser Kriminalisierung umfassen die Verteidigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, die Verhütung von Straftaten, insbesondere auch Menschenhandel, sowie den Schutz der Gesundheit. Diese stellen nach dem EGMR legitime Ziele im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK dar.
Der EGMR räumt dem französischen Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum ein, da es keinen Konsens unter den Mitgliedstaaten des Europarats über die beste Art und Weise der Regelung von Prostitution gebe. Der Gerichtshof erkennt die Argumente der Beschwerdeführer*innen an, die die negativen Auswirkungen des Verbotes, wie erhöhte Sicherheitsrisiken und eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen betonen. Diese Umstände hätten jedoch bereits vor der Kriminalisierung des Kaufes sexueller Dienstleistungen bestanden. Zudem bestehe keine Einigkeit darüber, ob die negativen Auswirkungen direkt auf die Kriminalisierung oder auf die inhärenten Risiken von Sexarbeit zurückzuführen seien.
Frankreich habe sich für einen Ansatz entschieden, bei dem Sexarbeit als unvereinbar mit der Würde des Menschen angesehen wird. Der EGMR erkennt an, dass diese Entscheidung im Rahmen eines langen und komplexen Gesetzgebungsverfahrens getroffen wurde. In diesem Rahmen wurden auch Sexarbeiter*innen angehört und verschiedene Positionen bei der Abwägung berücksichtigt. Der EGMR betont, dass es nicht seine Aufgabe sei, die nationale Politik zu ersetzen, sondern zu prüfen, ob die französischen Behörden einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen des Staates und den Interessen der Betroffenen gefunden hätten.
Schließlich stellt der EGMR fest, dass die soziale und gesundheitliche Situation von Sexarbeiter*innen sowie ihre Sicherheit und ihre Rechte während des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigt wurden. Das Gesetz sehe Maßnahmen zur Verringerung der Gesundheitsrisiken und zur Verbesserung des Zugangs zu Rechten und zur allgemeinen Gesundheitsfürsorge vor. Daher kommt der EGMR zu dem Schluss, dass die von Frankreich getroffene Entscheidung innerhalb des Ermessensspielraums liege, der dem Staat in diesem Bereich zustehe.
Der EGMR betont abschließend die Pflicht des französischen Gesetzgebers, den gewählten Ansatz und seine gesellschaftlichen, politischen und sozialen Folgen zu beobachten und gegebenenfalls bestehende Regelungen anzupassen.
Entscheidung im Volltext:
EGMR_25_07_2024_französisch (PDF, 460 KB, nicht barrierefrei)