VerfGH Berlin, Beschluss vom 19.6.2024
Aktenzeichen 80/22

Stichpunkte

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer von sexuellen Übergriffen Betroffenen mit kognitiven Beeinträchtigungen gegen Einstellung des Strafverfahrens wegen angeblicher Aussageunfähigkeit; Darstellung der Anforderungen an Klageerzwingungsantrag; Zurückweisung des Antrags aufgrund überhöhter Darlegungsanforderungen verfassungswidrig

Zusammenfassung

Der Berliner Landesverfassungsgerichtshof (VerfGH BE) gibt der Verfassungsbeschwerde einer Frau statt und erklärt die Zurückweisung ihres Klageerzwingungsantrags durch das Kammergericht für verfassungswidrig. Die Frau hat aufgrund eines Unfalls kognitive Beeinträchtigungen. Sie hatte ihrem (nicht behinderten) Vorgesetzten vorgeworfen, sie in der Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen, in der sie arbeitete, immer wieder durch sexuelle Übergriffe belästigt zu haben und Anzeige gegen den Mann erstattet. Die Staatsanwaltschaft (StA) stellte das Verfahren wegen Verdachts auf sexuelle Belästigung jedoch mangels Tatverdachts ein. Die dagegen eingelegte Beschwerde der Frau wurde von der Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen. Hiergegen reichte die Beschwerdeführerin beim Kammergericht einen umfangreichen Antrag auf ein Klageerzwingungsverfahren ein. In dem Antrag wird auch ein Telefonat der Mutter der Beschwerdeführerin mit dem Beschuldigten angeführt, in dem die Mutter von dem Mann verlangt habe, die Übergriffe auf ihre Tochter zu unterlassen. Der Beschuldigte habe sich der Mutter gegenüber entschuldigt und erklärt, sein Verhalten sei ihm unangenehm, er habe sich nichts dabei gedacht. Dass es das Telefonat gab, räumte der Beschuldigte später auch gegenüber seinem Vorgesetzten F. ein.

Eine entsprechende Stellungnahme des Vorgesetzten F., unter anderem zum Telefonat, wurde in der Antragsschrift als Beweismittel angegeben.

Das Kammergericht verwarf den Antrag als unzulässig, da er nicht den formalen Anforderungen des § 172 Abs. 3 S. 1 der Strafprozessordnung (StPO) entspräche. Der Antrag müsse danach zumindest in groben Zügen den Verlauf des Ermittlungsverfahrens angeben. Im Antrag der Beschwerdeführerin seien die Angaben und Äußerungen des Zeugen F. nur teilweise und teils auch irreführend wiedergegeben worden. Die Beschwerdeführerin hat hiergegen Verfassungsbeschwerde erhoben. Dabei rügt sie insbesondere die Verletzung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 7 der Verfassung von Berlin (VvB) und auf rechtliches Gehör aus Art. 15 Abs. 4. Sie ist der Ansicht, das Kammergericht überspanne die Anforderungen an die Zulässigkeit eines Antrages.

Außerdem sieht sie eine Diskriminierung aufgrund ihrer Beeinträchtigung und eine Verletzung ihres Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz durch die Art der Durchführung des Ermittlungsverfahrens. Hier bezieht sie sich besonders auf die Erstellung des aussagepsychologischen Gutachtens (das zum Ergebnis kam, die Frau sei nicht aussagefähig) und die Art und Weise ihrer Vernehmungen.

Der VerfGH BE gibt der Frau Recht und erklärt die Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz für zulässig und begründet. Der Beschluss verletze die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 15 Abs. 4 S. 1 VvB. Es sei zwar zutreffend, dass ein Klageerzwingungsantrag den Ermittlungsgang sowie die angegriffenen Bescheide und Gründe für ihre Unrichtigkeit grob wiedergeben müsse, um Gerichte vor Überlastung durch unsachgemäße Anträge zu schützen. Die Anforderungen an Form und Inhalt dürften zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes aber nicht überspannt werden. Der VerfGH BE legt die Anforderungen dar und stellt fest, der Antrag der Beschwerdeführerin sei diesen gerecht geworden, da er dem Kammergericht ermöglicht habe, ihn in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu überprüfen. Die Begründung des Kammergerichts zur Ablehnung des Antrages überspanne die Anforderungen an einen Klage- bzw. Ermittlungsantrag und halte den Anforderungen der Rechtsschutzgarantie nicht statt. Der VerfGH BE weist daher an das Kammergericht zurück mit der Anmerkung, dass im weiteren Verlauf insbesondere die sich aus Art. 13 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention ergebende Verpflichtung zur Gewährung eines diskriminierungsfreien Zugangs zur Justiz bzw. zur Durchführung von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren zu berücksichtigen sei.

Kernpunkte

Behindertenkonvention; Aussagefähigkeit bei kognitiver Beeinträchtigung

 

Entscheidung im Volltext:

VerfGH BE _19_06_2024 (PDF, 58 KB, nicht barrierefrei)

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