EuGH, Urteil vom 7.11.2024
Aktenzeichen C-126/23

Stichpunkte

Entschädigung – Unionsrecht – Familienangehörige – Gerechte und angemessene Entschädigung – Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 2004/80/EG

Zusammenfassung

In der Rechtssache C-126/23 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Richtlinie 2004/80/EG die Mitgliedstaaten verpflichtet, Entschädigungsregelungen einzuführen, die nicht nur direkte Betroffene vorsätzlich begangener Gewalttaten erfassen, sondern auch deren nahe Familienangehörige, wenn diese unter den Folgen der Tat leiden. Der Gerichtshof stellte fest, dass eine nationale Regelung, die bestimmte Angehörige automatisch von Entschädigungszahlungen ausschließt, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Eine solche Regelung könne keine „gerechte und angemessene Entschädigung“ gewährleisten.

Der Fall betrifft die Familienangehörigen einer Frau, die in Italien von einem vorsätzlichen Tötungsdelikts betroffen war. Der Täter war mittellos, sodass der italienische Staat im Rahmen seiner Entschädigungsregelung einsprang. Die Entschädigung wurde jedoch ausschließlich an die Kinder der Verstorbenen und ihren getrenntlebenden Ehepartner ausgezahlt. Die Eltern und die Schwester der Betroffenen wurden ausgeschlossen. Die Eltern und die Schwester klagten daraufhin vor einem italienischen Gericht mit der Begründung, dass sie ebenfalls unter den Folgen der Tat gelitten hätten. Das italienische Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob die automatische Ausschlussregelung mit Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 2004/80/EG vereinbar sei.
Der EuGH stellte fest, dass die italienische Regelung die Anforderungen der Richtlinie 2004/80/EG verletzt. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, eine Entschädigungsregelung zu schaffen, die eine gerechte und angemessene Wiedergutmachung für materielle und immaterielle Schäden gewährleistet. Hierbei gilt laut EuGH:

  • Begriff des „Opfers“:
    Der Begriff des „Opfers“ in Artikel 12 Absatz 2 der Richtlinie 2004/80/EG umfasst nicht nur die direkte betroffene Person, sondern auch ihre nahen Familienangehörigen, die mittelbar unter den Folgen der Tat leiden. Eine Beschränkung der Entschädigung allein auf bestimmte Angehörige – wie Kinder und Ehepartner – widerspricht den unionsrechtlichen Vorgaben.
  • Gerechte und angemessene Entschädigung:
    Die Entschädigung muss das Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen in adäquatem Umfang ausgleichen und zur Wiedergutmachung des erlittenen Schadens beitragen. Dabei darf sie nicht rein symbolisch sein oder offensichtlich unzureichend ausfallen.
  • Pauschale Entschädigungen:
    Wenn eine nationale Regelung pauschale Entschädigungen vorsieht, muss die Entschädigungstabelle detailliert genug sein, um sicherzustellen, dass die Beträge angemessen und den individuellen Umständen angepasst sind.
  • Unzulässigkeit automatischer Ausschlüsse:
    Die automatische Verweigerung von Entschädigungsansprüchen bestimmter Angehöriger, nur weil andere Familienmitglieder anspruchsberechtigt sind, ist unionsrechtlich unzulässig. Solche Regelungen müssen auch andere Gesichtspunkte berücksichtigen, wie die persönliche Betroffenheit der Angehörigen, bestehende Unterhaltspflichten oder das Zusammenleben mit der betroffenen Person.

Im Ergebnis entschied der EuGH, dass Italien seine Verpflichtungen aus der Richtlinie 2004/80/EG verletzt hat. Die Entschädigungsregelung muss überarbeitet werden, um allen nahen Angehörigen – einschließlich der Eltern und Geschwister der betroffenen Person – eine gerechte und angemessene Entschädigung zu ermöglichen.

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_7_11_2024 (PDF, 276 KB, nicht barrierefrei)

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