EuGH, Urteil vom 4.10.2024
Aktenzeichen C-406/22

Stichpunkte

Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren; Art. 15 EMRK; sicherer Herkunftsstaat; Art. 37 der RL 2013/32; Ex-nunc-Prüfung

Zusammenfassung

In der Rechtssache C-406/22 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) über die Voraussetzungen und die gerichtliche Überprüfung der Einstufung eines Drittstaats als „sicherer Herkunftsstaat“ gemäß der Richtlinie 2013/32/EU (Richtlinie zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes). Anlass war ein Vorabentscheidungsersuchen des Regionalgerichts Brno/Tschechische Republik, das Zweifel an der Vereinbarkeit bestimmter nationaler Praktiken mit dem Unionsrecht aufwarf.

Ein moldauischer Staatsangehöriger beantragte im Februar 2022 internationalen Schutz in der Tschechischen Republik. Er führte an, dass er in seiner Heimat von nicht identifizierten Personen bedroht worden sei und die allgemeine Sicherheitslage durch die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine erheblich beeinträchtigt sei. Die tschechischen Behörden lehnten den Antrag mit der Begründung ab, dass die Republik Moldau, ausgenommen Transnistrien, als sicherer Herkunftsstaat gelte.

Der Antragsteller klagte gegen diese Entscheidung. Das Regionalgericht Brno setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vor, insbesondere zur Bedeutung von Abweichungen von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zur Reichweite der gerichtlichen Überprüfung von Einstufungen sicherer Herkunftsstaaten.

1. Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten trotz EMRK-Abweichungen:

Der EuGH stellte klar, dass ein Drittstaat nach Richtlinie 2013/32 (Verbindung mit Anhang I der Richtlinie) weiterhin als sicherer Herkunftsstaat gelten kann, selbst wenn er sich gemäß Art. 15 EMRK auf das Recht beruft, von bestimmten Verpflichtungen der Konvention abzuweichen. Entscheidend ist jedoch, dass eine solche Abweichung sorgfältig geprüft wird. Es muss festgestellt werden, ob die konkreten Umstände, die zu dieser Abweichung führen, die grundlegenden Kriterien für die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat infrage stellen. Eine pauschale Aberkennung des Status als sicherer Herkunftsstaat allein wegen der Berufung auf Art. 15 EMRK ist nicht zulässig.

2. Territoriale Einschränkungen bei sicheren Herkunftsstaaten:

Der EuGH entschied, dass ein Drittstaat nur dann als sicherer Herkunftsstaat gelten kann, wenn die Kriterien für diese Einstufung im gesamten Hoheitsgebiet erfüllt sind. Eine Einstufung, die territoriale Ausnahmen vorsieht (wie etwa den Ausschluss von Transnistrien), widerspricht der Richtlinie 2013/32/EU. Diese verlangt eine einheitliche Sicherheitslage im gesamten Staatsgebiet. Daran ändert laut EuGH auch Art. 61 Abs. 2 der Verordnung 2024/1348 nichts, der diese Möglichkeit vorsieht.

3. Ex-nunc-Prüfung und gerichtliche Überprüfung:

Der EuGH betonte, dass nationale Gerichte im Rahmen einer ex-nunc-Prüfung verpflichtet sind, auch die Kriterien für die Einstufung eines sicheren Herkunftsstaats zu berücksichtigen. Der Begriff ex nunc bedeutet, dass die Prüfung den aktuellen Sach- und Rechtsstand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung berücksichtigen muss und nicht allein auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung beschränkt ist (ex tunc). Das Gericht muss also die aktuellen Entwicklungen im Herkunftsstaat bewerten, auch wenn der Antragsteller dies nicht ausdrücklich geltend gemacht hat. Dies ist notwendig, um den Anforderungen von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) zu genügen.

Der EuGH unterstreicht damit die Bedeutung einer umfassenden und regelmäßigen Bewertung der Sicherheitslage in Drittstaaten, die als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Insbesondere fordert der EuGH eine sorgfältige Berücksichtigung menschenrechtlicher Standards und aktueller politischer Entwicklungen. Nationale Gerichte müssen sicherstellen, dass ihre Entscheidungen auf dem neuesten Stand der Tatsachen basieren, um den Schutzansprüchen von Asylsuchenden gerecht zu werden. Gleichzeitig wird klargestellt, dass pauschale territoriale Ausnahmen in der Einstufung eines sicheren Herkunftsstaates unionsrechtlich unzulässig sind.

 

Entscheidung im Volltext:

EuGH_04_10_2024_C 406_22 (PDF, 265 KB, nicht barrierefrei)

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