EuGH, Urteil vom 19.12.2024
Aktenzeichen C 531/23
Stichpunkte
Arbeitszeiterfassung – Hausangestellte – Richtlinie 2003/88/EG – Grundrechte – Begrenzung der Höchstarbeitszeit – Ruhezeiten – arbeitsrechtlicher Gesundheitsschutz
Zusammenfassung
Eine vollzeitbeschäftigte Hausangestellte in Spanien klagte gegen ihre Entlassung und forderte Zahlungen für nicht genommene Urlaubstage und Sonderzahlungen. Die spanische Regelung befreite jedoch Haushalte von der Verpflichtung, die Arbeitszeit ihrer Angestellten aufzuzeichnen. Das vorlegende spanische Gericht zweifelte an der Vereinbarkeit dieser nationalen Regelung mit dem Unionsrecht und legte die Frage dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vor.
Der EuGH stellt klar, dass nationale Vorschriften, die keine Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit von Hausangestellten vorsehen, mit dem Unionsrecht unvereinbar sind. Die Arbeitszeiterfassung ist ein zentrales Instrument zum Schutz von Arbeitnehmer*innenrechten und stellt sicher, dass die Einhaltung von Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten überwacht werden kann. Im Einzelnen:
- Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung:
Der EuGH betont, dass Arbeitgeber*innen gemäß der europäischen Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verpflichtet sind, ein System einzurichten, mit dem die tägliche Arbeitszeit aller Arbeitnehmer*innen erfasst werden kann. Diese Verpflichtung besteht auch bei der Beschäftigung von Hausangestellten, da diese der gleichen Schutzbedürftigkeit wie andere Arbeitnehmer*innen unterliegen.
- Zweck der Arbeitszeiterfassung:
Die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit dient dazu, die Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften, einschließlich täglicher und wöchentlicher Ruhezeiten sowie der Begrenzung der Höchstarbeitszeit, sicherzustellen. Die Begrenzung und Kontrolle der Arbeitszeit dient dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten. Eine fehlende Arbeitszeiterfassung gefährdet die effektive Wahrung dieser Rechte.
- Abweichungen und Ausnahmen:
Zwar erlaubt die Richtlinie 2003/88/EG in Art. 17 Abweichungen von den allgemeinen Arbeitszeitregelungen für bestimmte Tätigkeiten oder Berufsgruppen. Diese Ausnahmen müssen jedoch strikt ausgelegt werden und dürfen nicht dazu führen, dass der Schutz der Sicherheit und Gesundheit von Arbeitnehmer*innen ausgehöhlt wird. Eine generelle Ausnahme von der Arbeitszeiterfassungspflicht für Hausangestellte widerspricht diesem Schutzziel und ist daher unzulässig.
- Grundrechte und Gleichbehandlung:
Der EuGH stellt zudem Überlegungen dazu an, ob die spanische Rechtslage darüber hinaus womöglich diskriminierend sein könnte. Art. 31 Abs. 2 GRC garantiert das Recht aller Arbeitnehmer*innen auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Nationale Regelungen, die Hausangestellte von der Arbeitszeiterfassungspflicht ausnehmen, können dieses Grundrecht beeinträchtigen und stellen eine ungleiche Behandlung dar. Da Hausangestellte überwiegend Frauen sind, könnte die Befreiung von der Arbeitszeiterfassungspflicht eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beinhalten. Dies wäre nur dann zulässig, wenn die Regelungen objektiv gerechtfertigt sind, was der Prüfung des nationalen Gerichts obliegt.
- Praktische Umsetzung:
Der EuGH betont, dass Arbeitgeber*innen auch für Hausangestellte angemessene Systeme zur Erfassung der Arbeitszeit einrichten müssen. Dabei bleibt es den Mitgliedstaaten überlassen, wie diese Systeme in der Praxis gestaltet werden, solange sie effektiv sind und die Rechte der Arbeitnehmer*innen schützen. Der Gerichtshof erkennt an, dass die Besonderheiten des Hausarbeitssektors berücksichtigt werden können. Dennoch müssen Maßnahmen ergriffen werden, die sicherstellen, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit tatsächlich gewährleistet ist. Ausnahmen dürfen die Regelung nicht ihres Wesensgehalts berauben.
Dieses Urteil verdeutlicht, dass der Schutz der Arbeitnehmer*innenrechte unabhängig von der Art der Beschäftigung gilt und auch für Tätigkeiten im privaten Haushalt umfassend durchgesetzt werden muss. Mit diesem Schritt führt der EuGH seine Rechtsprechung zur Arbeitszeiterfassung (siehe Urteil vom 14.5.2019 – C-55/18) konsequent fort. Er unterstreicht erneut, dass die effektive Begrenzung und Kontrolle der Arbeitszeit dem Gesundheitsschutz der Beschäftigten dient und aus dem grundrechtlich abgesicherten Anspruch auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf regelmäßige Ruhezeiten folgt. In Deutschland regelt § 16 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) die Verpflichtung zur Aufzeichnung der Arbeitszeiten. Diese Bestimmung wurde im Jahr 2022 durch eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Beschluss vom 13.9.2022 – 1 ABR 22/21) konkretisiert, das eine umfassende Pflicht zur Arbeitszeiterfassung feststellte.
Entscheidung im Volltext:
EuGH_19_12_2024 (PDF, 239 KB, nicht barrierefrei)
« Neue Suche