LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15.9.2022
Aktenzeichen L 6 VG 1148/22

Stichpunkte

Opferentschädigung – Psychische Gewalt – Anforderungen an einen tätlichen Angriff – Neuregelung durch SGB XIV – Beweislast und Glaubhaftmachung

Zusammenfassung

In dem Fall ging es um Beschädigtenrechte nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Klägerin beantragte eine Beschädigtenrente nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG i.V.m. §§ 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, 30, 31 BVG aufgrund langjähriger psychischer Gewalt durch ihren Ehemann sowie eines einmaligen tätlichen Angriffs. Sie trug vor, über Jahre hinweg Beleidigungen, Erniedrigungen und Aggressivität durch ihren Ehemann erlitten zu haben. In dem 20 Jahre andauernden „Martyrium“ sei der Kontroll- und Machtmissbrauch durch ihren Ehemann schleichend immer stärker geworden, während die Klägerin diesem nach und nach immer mehr unterlag und angab, durch den innerlichen Rückzug und eines damit einhergehenden Verlustes des Gefühls für Normalität, verstummt und „seelisch abgestorben“ zu sein. Ein Vorfall im Januar 2017, bei dem sie von ihrem Ehemann gestoßen worden sei, habe ihre psychischen Belastungen verstärkt. Während eines darauf folgenden Klinikaufenthaltes wurde bei ihr eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert.

Das Sozialgericht Stuttgart wies ihre Klage auf Entschädigung ab. Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Berufung vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg ein.

Das LSG bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz und wies die Berufung zurück.

 

Kein Gesundheitserstschaden

Nach Auffassung des LSG wurde der für einen Entschädigungsanspruch nach dem OEG oder SGB XIV erforderliche Gesundheitserstschaden – ein unmittelbar durch einen tätlichen Angriff verursachter Gesundheitsschaden – nicht nachgewiesen. Auch die diagnostizierte PTBS könne nicht eindeutig auf einen konkreten Vorfall zurückgeführt werden. Damit fehle es bereits an einer Grundvoraussetzung für eine Entschädigung nach dem OEG oder SGB XIV.

 

Fehlender tätlicher Angriff im Sinne des OEG

Nach Ansicht des LSG fehlte es zudem an einem tätlichen Angriff im Sinne des OEG. Dieser setze eine physische Einwirkung auf die Betroffene voraus. Zwar schilderte die Klägerin einen solchen Vorfall aus dem Jahr 2017. Dieser sei jedoch nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden. Die Klägerin und ihr Ehemann machten widersprüchliche Aussagen und es gab keine objektiven Beweise für eine körperliche Einwirkung. Der Ehemann hatte den Vorfall als eine eskalierende Auseinandersetzung, in der er sich durch das Verhalten der Klägerin bedrängt fühlte, geschildert. Er betonte, dass ihr fortgesetztes Eindringen in seinen Rückzugsraum sowie ihr physisches und verbales Auftreten zu einer Konfrontation führten, in deren Verlauf er schließlich handelte, um sich der Situation zu entziehen. Der Vorfall war zudem Gegenstand staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gewesen. Aufgrund der sich widersprechenden Aussagen der Beteiligten und der unzureichenden Beweislage konnte der Vorfall jedoch nicht abschließend aufgeklärt werden. Das Verfahren wurde daher eingestellt.

 

Psychische Gewalt und die neue Rechtslage im SGB XIV

Nach der bisherigen Rechtslage des OEG, welches zum 31.12.2023 außer Kraft getreten ist, führte psychische Gewalt allein nicht zu einem Entschädigungsanspruch. Mit dem zum 01.01.2024 in Kraft getretenen SGB XIV wird psychische Gewalt als Entschädigungstatbestand anerkannt. Gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB XIV kann eine soziale Entschädigung gewährt werden, wenn die betroffene Person durch ein vorsätzliches, rechtswidriges und unmittelbar gegen die freie Willensentscheidung der Person gerichtetes schwerwiegendes Verhalten geschädigt wurde. Obwohl die neue Rechtslage zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht galt, machte das Gericht auch hierzu Ausführungen und wies darauf hin, dass an die erweiterte Anerkennung psychischer Gewalt im SGB XIV hohe Maßstäbe anzulegen seien. Demnach werde ein Verhalten in der Regel nur dann als schwerwiegend eingestuft, wenn es mindestens von vergleichbarer Schwere zu Straftaten wie Menschenhandel, Nachstellung, Geiselnahme oder räuberischer Erpressung sei. Die Gesetzesbegründung betone, dass nicht jegliches unerlaubte Verhalten erfasst werden kann, um eine uferlose Ausweitung des Tatbestands zu vermeiden. Auch nach neuer Rechtslage wäre die Klägerin daher voraussichtlich ebenfalls nicht erfolgreich gewesen.

 

Glaubhaftmachung und Beweiserleichterung

Betroffene von psychischer Gewalt müssen für eine entsprechende Anerkennung nach dem SGB XIV glaubhaft darlegen, dass die psychische Gewalt eine unmittelbare und schwerwiegende Beeinträchtigung der freien Willensentscheidung bewirkt hat. In der Praxis kann es damit für Betroffene psychischer Gewalt herausfordernd sein, die geforderten Nachweise zu erbringen. Das LSG stellt klar, dass  die Beweismaßstäbe des Rechts der sozialen Entschädigung auch weiterhin gelten. Demnach bedarf es für die entscheidungserheblichen Tatsachen (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) grundsätzlich des Vollbeweises. Für den Ursachenzusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und einer gesundheitlichen Schädigung genügt weiterhin die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Zudem sieht das Sozialrecht Beweiserleichterungen vor. Demnach reicht es mitunter aus, dass Tatsachen glaubhaft gemacht werden. Das bedeutet, dass es genügt, dass die glaubhaft zu machende Tatsache bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten ist. Auch unter Berücksichtigung der Beweiserleichterungen im sozialen Entschädigungsrecht war der Vortrag der Klägerin aus Überzeugung des Gerichts, insbesondere durch die aus Sicht des Gerichts in den Angaben enthaltene Widersprüchlichkeit, nicht hinreichend substantiiert. Das Gericht berücksichtigte zudem die Aussage des Ehemannes und wertete u.a. die Tatsache, dass die Klägerin nach dem mutmaßlichen tätlichen Angriff nicht unmittelbar polizeiliche Hilfe in Anspruch genommen hat, sondern mit der Anzeige gut zwei Wochen wartete, als Indiz gegen einen solchen Angriff.

 

Ausschluss der Entschädigung wegen Unbilligkeit durch Mitverursachung

Das Gericht sah es zudem als erwiesen an, dass die Klägerin die Eskalation der Situation, die zu einer körperlichen Auseinandersetzung geführt haben soll, jedenfalls durch ihr Verhalten zumindest gleichwertig mitverursacht habe. In solchen Fällen konnte nach § 2 Abs. 1 S. 1 OEG die Entschädigung wegen Unbilligkeit ausgeschlossen werden. Die Mitverursachung der Klägerin lag nach Ansicht des Gerichts darin, dass sie die Konfrontation mit ihrem Ehemann bewusst herbeigeführt oder zumindest verschärft habe. Konkret stellte das Gericht fest, dass sie durch den Beginn des Gespräches über die psychische Verfassung des Ehemanns die wesentliche Ursache für seine aggressive Reaktion selbst gesetzt habe. Darüber hinaus sei die Klägerin jedenfalls gehalten gewesen, sich der Situation sofort zu entziehen, als sie gemerkt habe, dass der Ehemann aggressiv auf ihr Ansinnen reagiert. Das Verhalten der Klägerin sei somit umfassend unbillig und als Selbstgefährdung einzustufen.


Das Urteil verdeutlicht, dass psychische Gewalt unter der bisherigen Rechtslage des OEG keinen Entschädigungsanspruch begründete und dass auch unter dem neuen SGB XIV die Anforderungen an den Nachweis des Entschädigungstatbestandes zu beachten sind. Zwar sind durch das SGB XIV Verbesserungen für Betroffene psychischer Gewalt vorgesehen, jedoch bleibt die Hürde der Beweisführung trotz Beweiserleichterung hoch, sodass auch hier idealerweise objektive Beweise beigebracht werden müssen. Zudem zeigt die Entscheidung, dass Entschädigungsansprüche ausgeschlossen sein können, wenn Betroffene nach Ansicht des Gerichtes wesentlich zur Eskalation der Situation beigetragen haben.

 

Entscheidung im Volltext:

LSG BW_15_09_2022 (PDF, 94,1 KB, nicht barrierefrei)

Gefördert vom
Logo BMFSFJ
KOK ist Mitglied bei

Kontakt

KOK - Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Lützowstr.102-104
Hof 1, Aufgang A
10785 Berlin

Tel.: 030 / 263 911 76
E-Mail: info@kok-buero.de

KOK auf bluesky