Sozialleistungen – Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit – Arbeitnehmer*innenstatus – Missbrauch des Freizügigkeitsrechts – ergänzender Sozialleistungsbezug
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) entschied in einem Eilrechtsschutzverfahren, dass ein geringfügiger ergänzender Bezug von Sozialleistungen nicht automatisch einen Missbrauch des EU-Freizügigkeitsrechts begründet. Die Behörde kann den Arbeitnehmer*innenstatus und damit die Freizügigkeitsberechtigung nicht allein wegen eines Leistungsbezugs verneinen.
Die Antragsteller*innen, eine bulgarische Familie mit zwei Kindern, reisten im Frühjahr 2019 nach Deutschland ein. Der Vater nahm eine Teilzeitbeschäftigung als Landschaftsgärtner auf, bei der er monatlich 680 EUR netto verdiente. Kurz nach Arbeitsaufnahme erlitt er einen Arbeitsunfall und wurde arbeitsunfähig, bezog aber weiterhin Verletzten- und Krankengeld. Die Familie stellte daraufhin einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Das Jobcenter lehnte den Antrag ab, da sich der Aufenthalt der Familie allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe und die Arbeitstätigkeit des Vaters nicht ausreiche, um einen stabilen Arbeitnehmerstatus zu begründen. Das Sozialgericht Wiesbaden bestätigte diese Einschätzung und wies den Eilantrag auf Sozialleistungen ab. Die Familie legte Beschwerde beim Hessischen LSG ein.
Die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit ist in Art. 45 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert und gewährt Bürger*innen der Europäischen Union das Recht, sich zur Arbeitssuche und Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten. In Deutschland regelt § 7 Abs. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), dass EU-Bürger*innen keinen Anspruch auf Grundsicherung haben, wenn sie sich ausschließlich zur Arbeitsuche im Bundesgebiet aufhalten.
Das Hessische LSG stellte jedoch klar, dass eine geringfügige Aufstockung durch Sozialleistungen nicht automatisch den Arbeitnehmer*innenstatus entfallen lässt. Der Antragsteller hatte eine tatsächliche und echte Beschäftigung aufgenommen, die nicht nur symbolisch oder unwesentlich war.
Das LSG betonte zudem, dass die bloße Möglichkeit, Sozialleistungen zu beantragen, keinen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts begründet. Eine missbräuchliche Berufung auf den Arbeitnehmer*innenstatus und die daran anknüpfende Freizügigkeitsberechtigung der anderen Familienmitglieder liegt vor, wenn eine Person absichtlich und gezielt eine Beschäftigung aufnimmt, um sich rechtsmissbräuchlich Sozialleistungen zu verschaffen, ohne tatsächlich eine nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt anzustreben. Für die Annahme, die Berufung auf die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit könne sich als missbräuchlich darstellen, sei jedoch kein Raum, wenn – wie hier – der Antragsteller durch seine Beschäftigung seinen Lebensunterhalt größtenteils selbst finanzierte. Das Gericht berief sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach die Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit nicht bereits entfällt, wenn ergänzende Sozialleistungen bezogen werden. Selbst wenn der Antragsteller nur teilweise seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit deckte, bleibt sein Freizügigkeitsstatus erhalten. Das LSG hob den ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden auf und verpflichtete die Antragsgegnerin, der Familie vorläufig Grundsicherungsleistungen nach SGB II für fünf Monate zu gewähren.
Die Entscheidung stärkt die Rechte von EU-Wanderarbeitnehmer*innen, indem sie klarstellt, dass eine teilweise Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht automatisch einen Missbrauch des Freizügigkeitsrechts darstellt. Das LSG betont, dass ein Arbeitnehmer*innenstatus auch dann bestehen bleibt, wenn eine Erwerbstätigkeit nur teilweise den Lebensunterhalt deckt und ergänzende Sozialleistungen notwendig sind. Diese Auslegung entspricht der Rechtsprechung des EuGH zur Sicherung der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit und verhindert eine pauschale Ausgrenzung von EU-Bürger*innen aus dem deutschen Sozialleistungssystem.
Entscheidung im Volltext: