BSG, Urteil vom 12.5.2021
Aktenzeichen B 4 AS 34/20 R

Stichpunkte

Ausschluss von Sozialleistungen für EU-Bürger*innen – Sozialhilfe – SGB II – SGB XII – menschenwürdiges Existenzminimum

Zusammenfassung

Das Bundessozialgericht (BSG) entschied, dass EU-Bürger*innen, die keinen Anspruch auf Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) haben, unter bestimmten Voraussetzungen Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) beanspruchen können. Die Entscheidung konkretisiert die Grenzen des Leistungsausschlusses für erwerbslose EU-Bürger*innen und stellt klar, dass eine längere Aufenthaltsdauer eine Verpflichtung zur Gewährung existenzsichernder Leistungen begründen kann.

Die Kläger, eine vierköpfige rumänische Familie, lebten seit 2009 in Deutschland. Der Vater war bis Ende 2013 als Gerüstbauhelfer selbständig tätig und schloss anschließend einen Arbeitsvertrag, konnte die Beschäftigung jedoch wegen der Insolvenz des Arbeitgebers nicht aufnehmen. Im streitigen Zeitraum (Dezember 2013 bis April 2014) war die Familie daher auf existenzsichernde Leistungen angewiesen. Das Jobcenter lehnte ihren Antrag auf Leistungen nach dem SGB II jedoch ab, da ihr Aufenthaltsrecht allein auf der Arbeitsuche beruhte (§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II). Die Familie erhob Klage gegen die Entscheidung. Das Sozialgericht Bremen und das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen bestätigten die Ablehnung des Jobcenters und verneinten auch einen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem SGB XII. Die Kläger legten daraufhin Revision beim BSG ein.

Das BSG bestätigte den Ausschluss von SGB-II-Leistungen für EU-Bürger*innen, deren Aufenthaltsrecht allein auf der Arbeitsuche beruht. Nach der gefestigten Rechtsprechung dient diese Regelung dazu, eine Einwanderung in die Sozialsysteme zu verhindern. Auch nach Auffassung des BSG bestand daher kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Das Gericht entschied jedoch, dass EU-Bürger*innen unter bestimmten Voraussetzungen dennoch einen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben. Zwar schließt § 23 Abs. 3 SGB XII Sozialhilfe für EU-Bürger*innen mit Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche grundsätzlich aus. Doch die Leistungsausschlüsse im SGB sind nicht absolut und müssen im Lichte des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip) ausgelegt werden. Sozialhilfe kann daher gewährt werden, wenn sich der Aufenthalt der Antragsteller*innen verfestigt hat und sie faktisch über längere Zeit in Deutschland leben. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt vor, wenn das Existenzminimum auf andere Weise nicht gesichert werden kann. In dem Fall muss also Sozialhilfe nach dem SGB XII gewährt werden. Da sich die Familie seit mehreren Jahren in Deutschland aufhielt und kein Rückkehrwille ersichtlich war, bestand ein Anspruch auf Sozialleistungen. Das BSG betonte, dass ein längerer Aufenthalt in Deutschland ein starkes Indiz für eine Verfestigung des Aufenthaltsrechts ist. Sobald EU-Bürger*innen faktisch dauerhaft in Deutschland leben, sind sie nicht ohne Weiteres von Sozialhilfe ausgeschlossen. Die Behörden müssen dann eine Einzelfallprüfung vornehmen und dürfen Leistungen nicht pauschal verweigern.

Die Entscheidung stärkt den sozialstaatlichen Schutz von EU-Bürger*innen und stellt klar, dass ein genereller Ausschluss von Sozialhilfe gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstoßen kann. Während der Zugang zu SGB-II-Leistungen weiterhin eingeschränkt ist, müssen Sozialhilfeträger in bestimmten Fällen existenzsichernde Leistungen nach SGB XII gewähren.

 

Entscheidung im Volltext:

BSG_12_05_2021 (PDF, 367 KB, nicht barrierefrei)

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