Arbeitsschutz, unionsrechtliches Gehör – Vorrang des Unionsrechts im Strafverfahren – Rechte Hinterbliebener – Verfahrensrechte
Mit seinem Urteil vom 26.09.2024 befasst sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit dem Zusammenspiel von Arbeitsschutz, unionsrechtlichen Verfahrensgarantien und nationalem Verfassungsrecht. Anlass war ein tödlicher Arbeitsunfall in Rumänien, in dessen Folge eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne Beteiligung der Hinterbliebenen strafrechtlich bindende Wirkung entfalten sollte. Der EuGH stellt in dem Vorabentscheidungsverfahren klar, dass der unionsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz nicht durch nationalstaatliche Regelungen unterlaufen werden darf.
Im Jahr 2017 ereignete sich in Rumänien ein tödlicher Arbeitsunfall: Ein Elektriker erlitt während seiner Tätigkeit an einer Außenleuchte einen Stromschlag und verstarb. Die rumänische Arbeitsaufsichtsbehörde stufte das Ereignis als Arbeitsunfall ein. Gegen einen Verantwortlichen im Unternehmen des Verunglückten wurde daraufhin ein Strafverfahren wegen Missachtung von Arbeitsschutzvorschriften und fahrlässiger Tötung eingeleitet.
Der Arbeitgeber bestritt die Unfalleigenschaft und klagte vor einem Verwaltungsgericht. Dieses erklärte die Einschätzung der Arbeitsinspektion für ungültig – ohne die Hinterbliebenen des Verstorbenen am Verfahren zu beteiligen. Da nach rumänischem Verfassungsrecht Entscheidungen von Verwaltungsgerichten für Strafgerichte bindend sind, konnte das Strafgericht die Unfalleigenschaft nicht mehr eigenständig prüfen. Zudem besteht in Rumänien die Gefahr disziplinarrechtlicher Sanktionen für Richter*innen, die sich über die Bindungswirkung verfassungsgerichtlich bestätigter Normen hinwegsetzen.
Das vorlegende rumänische Gericht fragte beim EuGH an, ob diese nationalen Regelungen mit dem Unionsrecht – insbesondere mit der Arbeitsschutzrichtlinie 89/391/EWG, der Grundrechtecharta der EU (GRC) und dem Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts – vereinbar seien.
Der EuGH stellte fest, dass, sofern das Strafgericht die Qualifikation des Ereignisses als Arbeitsunfall nicht mehr eigenständig prüfen darf, diese Regelung Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie der Vorrang des Unionsrechts entgegensteht.
Verfahrensrechte für Hinterbliebene
Die Arbeitsschutzrichtlinie verpflichtet Arbeitgeber*innen, für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zu sorgen (Art. 5 Abs. 1). Daraus ergeben sich zwar keine unmittelbaren Haftungsansprüche, wohl aber unionsrechtlich gewährleistete Verfahrensrechte, insbesondere auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRC). Diese Rechte gelten auch für Hinterbliebene. Der EuGH stellt zudem klar, dass eine gerichtliche Entscheidung, die eine unionsrechtlich relevante Vorfrage (wie die Qualifikation als Arbeitsunfall) für ein Straf- oder Zivilverfahren verbindlich vorgibt, nicht ohne Beteiligung der Betroffenen – hier der Hinterbliebenen – getroffen werden darf. Andernfalls liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und gegen den Effektivitätsgrundsatz des Unionsrechts vor.
Vorrang des Unionsrechts
Nationale Gerichte sind verpflichtet, jede innerstaatliche Norm, die gegen Unionsrecht verstößt, unangewendet zu lassen – auch dann, wenn sie durch das nationale Verfassungsgericht bestätigt wurde. Sanktionen gegen Richter*innen, die dieser Pflicht nachkommen, verstoßen gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und gegen Art. 19 Abs. 1 Vertrag über die Europäische Union (EUV).
Die Entscheidung verdeutlicht, dass unionsrechtlich garantierte Verfahrensrechte – wie das rechtliche Gehör und der Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz – auch im Kontext von Strafverfahren wegen Arbeitsunfällen vollumfänglich gelten. Nationale Verfahrensregeln, die es Strafgerichten verwehren, unionsrechtlich relevante Vorfragen eigenständig zu prüfen, sind unzulässig, wenn Betroffene zuvor nicht gehört wurden.
Zudem bekräftigt der EuGH, dass nationale Richter*innen dem Unionsrecht auch dann Vorrang einräumen müssen, wenn nationale Verfassungsgerichte entgegenstehende Vorgaben gemacht haben. Die Entscheidung stärkt sowohl die Durchsetzung arbeitsrechtlicher Schutzvorgaben als auch die richterliche Unabhängigkeit.
Auch wenn deutsche Strafgerichte nicht an verwaltungsgerichtliche Entscheidungen gebunden sind, ist die Entscheidung des EuGH für Deutschland bedeutsam. Sie unterstreicht, dass Hinterbliebene und Angehörige in Verfahren, die für ihre Rechte entscheidend sind – etwa bei der strafrechtlichen Aufarbeitung tödlicher Arbeitsunfälle – nicht übergangen werden dürfen. Das gilt insbesondere dann, wenn frühere behördliche oder gerichtliche Bewertungen (z.B. zur Unfallursache) faktisch vorgreiflich wirken. Der EuGH bekräftigt zudem, dass nationale Gerichte das Unionsrecht auch gegenüber verfassungsrechtlichen Vorgaben durchsetzen müssen, um Verfahrensrechte Betroffener zu wahren.
Entscheidung im Volltext: