BVerwG, Urteil vom 29.8.2024
Aktenzeichen 1 C 9.23

Stichpunkte

Wegweisende Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Familienzusammenführung; Kindernachzug auch nach Fristüberschreitung möglich, wenn unzureichende Information über zur Fristeinhaltung erforderliche Maßnahmen und Nichteinhaltung aufgrund besonderer Umstände objektiv entschuldbar; zum Zeitpunkt der Minderjährigkeit

Zusammenfassung

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bestätigt eine Verwaltungsgerichtsentscheidung, mit der zwei Syrerinnen Anspruch auf Familiennachzug zugesprochen wurde und entscheidet, dass Kindernachzug in bestimmten Fällen auch dann noch möglich ist, wenn ein Antrag auf Familiennachzug unverschuldet nicht innerhalb von drei Monaten nach Flüchtlingsanerkennung gestellt wurde.

Im konkreten Fall ging es um zwei 1991 und 2001 geborene Töchter eines im November 2015 in Deutschland als Flüchtling anerkannten Syrers. Der Vater hatte im Februar 2016 eine sog. fristwahrende Anzeige bei der zuständigen Ausländerbehörde gemacht, dass er seine zu dem Zeitpunkt noch minderjährigen Töchter nach Deutschland holen möchte. Die Töchter konnten einen Visumsantrag zur Familienzusammenführung zu ihrem Vater bei der zuständigen Botschaft allerdings erst 2020 nach Eintritt ihrer Volljährigkeit stellen, weil sie durch den Bürgerkrieg, Grenzschließungen und andere äußere Umstände daran gehindert worden waren. Die Botschaft lehnte ihre Anträge im Mai 2021 daher wegen Volljährigkeit ab. Das Verwaltungsgericht Berlin (VG) verpflichtete jedoch mit Urteil vom März 2023 die Botschaft, die Visa auszustellen, da die Töchter einen Anspruch aus §§ 27, 29, 32 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hätten. Die Klägerinnen seien noch als minderjährig im Sinne des § 32 AufenthG anzusehen, da sie dies zum Zeitpunkt der Asylantragstellung des Vaters gewesen seien. Auf diesen Zeitpunkt sei auch nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) abzustellen, wenn der Antrag innerhalb der Dreimonatsfrist nach Anerkennung gestellt worden sei. Dies sei durch die Anzeige des Vaters gewährleistet. Dass die Botschaft erst Jahre später, 2021 als die Klägerinnen dort vorsprachen, die erforderlichen Informationen erhalten und entschieden habe, ändere an der Fristwahrung nichts, da dies an Umständen lag, die sie nicht zu vertreten hatten, insbesondere dem Bürgerkrieg. Die beklagte Botschaft hielt dem entgegen, die vom Vater bei der Ausländerbehörde gemachte fristwahrende Anzeige stelle keinen erforderlichen Antrag dar, auch sei die Ausländerbehörde nicht die zuständige Stelle, der Vater habe z.B. auch per E-Mail selbst einen Antrag oder eine Anzeige bei der zuständigen Auslandsvertretung stellen können.

Das BVerwG weist die Revision der Botschaft zurück und erklärt, das Urteil des VG sei zwar insofern unzutreffend, als es einen Anspruch auf Familiennachzug aus Bundesrecht, nämlich § 32 AufenthG zuerkenne, es sei aber aufgrund eines Anspruchs der Klägerinnen, der sich unmittelbar aus Art. 4 der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL2003/86/EG) ergäbe, zutreffend.

Das BVerwG legt dar, die sog. fristwahrende Anzeige des Vaters bei der Ausländerbehörde stelle keinen Antrag auf Familienzusammenführung dar. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 01.08.2022) komme es bei der Frage der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des zusammenführenden Elternteils an, wenn der Antrag auf Familienzusammenführung drei Monate nach Anerkennung gestellt wurde, damit das Recht auf Familienzusammenführung nicht von der Bearbeitungsdauer durch die Behörden abhänge und von Umständen, auf die die Antragsstellenden keinen Einfluss hätten (EuGH 12.04.2018). Die Dreimonatsfrist solle verhindern, dass die Betroffenen sich unbegrenzt auf ihre Minderjährigkeit berufen könnten. Die Frist für die Antragstellung beginne mit Volljährigkeit des nachzugswilligen Kindes. Die Klägerinnen hatten diese Frist versäumt. Das Gericht führt aber aus, dass Nachzugswilligen eine Fristversäumnis nicht entgegengehalten werden könne, wenn sie nicht ausreichend über entsprechende Fristen und Folgen der Nichteinhaltung sowie andere Möglichkeiten der Antragsstellung informiert waren. Dies ergäbe sich aus den Grundsätzen der Richtlinie. Die Klägerinnen hätten die entsprechenden Informationen nicht gehabt. Die verspätete Antragstellung sei unverschuldet, da sie erst nach mehreren verzögerten Versuchen und äußeren Umständen wie Grenzschließungen und Kriegssituationen einen Termin bei der deutschen Botschaft in Beirut wahrnehmen konnten. Zudem hätten sie nachgewiesen, sich stets bemüht zu haben, rechtzeitig einen Termin zu bekommen. Das Gericht erklärt daher, dass die Töchter trotz verspäteter Antragstellung einen Anspruch auf Familiennachzug hätten.

Kernpunkte

Zeitpunkt der Minderjährigkeit bei Familiennachzug, fristwahrende Anzeige, Antrag auf Familienzusammenführung

 

Entscheidung im Volltext:

bverwg_29_08_2024 (PDF, 264 KB, nicht barrierefrei)

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