BSG, Urteil vom 6.10.2011
Aktenzeichen B 9 VG 3/10 R

Stichpunkte

Sozialrechtsverfahren um Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) für Ausländerinnen und Ausländer; Anfechtung einer Abfindung der Grundrente wegen Ausreise nach Polen; Ausführungen zur Abgrenzung eines berechtigten vom unberechtigten Export von OEG-Leistungen durch die Rückreise der Anspruchsberechtigten ins Heimatland; Gericht legt dar, dass § 7 OEG eine abschließende Regelung zur Abfindung ausländischer Geschädigter zur Vermeidung eines unerwünschten Leistungsexportes darstellt; Ausführungen zur Möglichkeit einer rückwirkenden Bewilligung für Zeitraum vor EU-Beitritt für eine Polin.

Zusammenfassung

Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Im Dezember 1998 wurde sie während eines Kurzaufenthaltes in Deutschland zum Besuch ihrer Großmutter Opfer einer Gewalttat. Nach zwischenzeitlicher Ausreise, kehrte sie spätestens im Mai 1999 nach Deutschland zurück, wo sie jetzt dauerhaft lebt. Auf ihren Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) im März 1999 wurde ihr eine monatliche Grundrente ab Dezember 1998 zugesprochen. Gleichzeitig wurde ihr nach § 1 Absatz 7 OEG wegen ihrer Ausreise Ende 1998 und damit Erlöschens ihrer Aufenthaltsbewilligung eine einmalige Abfindung in zehnfacher Höhe der monatlichen Leistung zugesprochen.

Die Klägerin ging gegen die Abfindung mit Widerspruch und schließlich Klage vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg vor. Während des Verfahrens änderte die Beklagte, die Freie und Hansestadt Hamburg, wegen des EU-Beitritts Polens zum 1. Mai 2004 den Bescheid und bewilligte eine laufende Grundrente ab dem 1. Mai. Das Sozialgericht sprach der Klägerin einen Anspruch auf monatliche Leistungen auch für die Zeit ab Dezember 1998 bis April 2004 zu.

Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das Urteil wieder auf. Die Klägerin habe zwar grundsätzlich Anspruch auf Leistungen nach dem OEG, aber nur nach den für Ausländer und Ausländerinnen geltenden Maßgaben. Da sie Polin und Polen zur Tatzeit noch nicht in der EU gewesen sei, käme eine Bewilligung nach Maßgaben für EU-Angehörige nicht in Betracht. Eine rückwirkende Bewilligung auf die Zeit vor dem EU-Beitritt sei auch nach Maßgabe der EU-Richtlinie zur Entschädigung von Opfern von Straftaten nicht vorgesehen. Ihr grundsätzlich bestehender Anspruch sei daher mit der Abfindung erloschen. Diese sei nach § 1 Absatz 7 Nummer 2 OEG rechtmäßig gewesen.
Das LSG setzt sich mit der Frage auseinander, inwieweit das danach für eine Abfindung erforderliche Erlöschen der Aufenthaltsgenehmigung bei der Klägerin gegeben war, da diese als „Positivstaatlerin“ eine solche Aufenthaltsgenehmigung gar nicht benötigte. Das LSG sieht insofern eine gesetzliche Regelungslücke und führt aus, warum die Abfindungsregelung dennoch für die Klägerin gelte. Die Klägerin legte gegen das Urteil Revision ein. Sie wendet sich dabei nur gegen die Abfindung, mit dem Ziel, die Grundrente auch von Januar 1999 bis April 2004 zu bekommen.

Das Bundessozialgericht (BSG) gibt der Revision statt. Es stellt fest, dass die Abfindung unrechtmäßig war, da keine der Voraussetzungen des § 1 Absatz 7 OEG vorlagen. Das Landessozialgericht hat nach Ansicht des BSG fälschlich eine Regelungslücke im Absatz 7 des § 1 OEG angenommen. Das Gericht legt dar, warum eine solche nicht besteht und daher auch keine entsprechende Anwendung auf die Klägerin stattfinden durfte. Es setzt sich in diesem Zusammenhang mit der Abgrenzung von berechtigtem zu unberechtigtem Leistungsexport durch die Ausreise eines Leistungsberechtigten nach dem OEG auseinander und stellt fest, dass eine Abfindung, durch die alle weiteren Ansprüche erlöschen, nur in den in § 1 Absatz 7 genannten Fällen gestattet ist, die Abfindung der Klägerin damit rechtswidrig war. Auch sei der Leistungsanspruch der Klägerin nicht durch ihre vorübergehende Ausreise, die weniger als sechs Monate dauerte, erloschen.
Daher habe sie einen Anspruch auf die monatliche Grundrente auch in der Zeit von der Erstbewilligung bis zum April 2004, ohne dass es auf die Frage ankomme, ob eine rückwirkende Bewilligung für die Zeit vor dem EU-Betritt Polens möglich wäre.

Entscheidung im Volltext:

BSG_06_10_2011 (PDF, 110 KB, nicht barrierefrei)