LSG Bayern, Urteil vom 19.6.2013
Aktenzeichen L 16 AS 847/12

Stichpunkte

Bedeutende Entscheidung im Sozialgerichtsverfahren um Sozialleistungen für EU-BürgerInnen; Gericht erklärt Ausschluss von als Arbeitssuchende aufenthaltsberechtigten EU-BürgerInnen vom Sozialleistungsbezug für europarechtswidrig; umfassende Ausführungen zum Begriff der `Sozialhilfe´ und deren gemeinschaftsrechtlicher Einordnung; Leistungen nach dem zweiten Sozialgesetzbuch sind keine Sozialhilfe sondern Leistungen, die Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen; umfassende Auswertung der europäischen Regelungen und der Rechtsprechung, insbesondere des Europäischen Gerichtshofes, zur Frage der sozialrechtlichen Gleichbehandlung

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht (LSG) Bayern spricht einem italienischen Staatsbürger einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II zu. Der Kläger hatte über 20 Jahre in Deutschland gelebt und sozialversicherungspflichtig gearbeitet. Nachdem er zwischenzeitlich für einige Jahre nach Italien zurückgekehrt war, zog er im Jahre 2010 wieder nach Deutschland und beantragte Leistungen nach Hartz IV. Diese wurden ihm zunächst auch gewährt. Als er jedoch erkrankte und Krankenhausbehandlungen nötig wurden, widerrief die Behörde die Bewilligung und versagte weitere Leistungen unter Berufung auf den Leistungsausschluss des § 7 Absatz 1 Satz 2 Nr. 2 des zweiten Sozialgesetzbuches (SGB II). Danach sind Unionsbürger, die ein Aufenthaltsrecht allein zum Zwecke der Arbeitssuche haben, vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Widerspruchs- und Klageverfahren blieben erfolglos. Das Landessozialgericht erklärt hingegen den Ausschluss von Leistungen nach § 7 SGB II für europarechtswidrig.  Es setzt sich eingehend mit der bisherigen Rechtsprechung hierzu auseinander und kommt mit ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis, dass der Leistungsausschluss gegen ein, sich unter anderem aus Artikel 24 Absatz 1 der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie) ergebenes, Gleichbehandlungsgebot verstoße. Zwar ermögliche Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie Einschränkungen bei der Gewährung von Sozialhilfe, bei den Leistungen nach dem SGB II handele es sich aber nicht um Sozialhilfe im Sinne dieser Vorschrift sondern um besondere beitragsunabhängige Leistungen zur Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt gemäß Artikel 3 Absatz 3 in Verbindung mit Artikel 70 der VO 883/2004 (Europäische Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit).

Das LSG verweist darauf, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Entscheidungen zu ähnlich gelagerten Fällen festgestellt habe, dass die Ausnahmeregelung des Artikel 24 der Freizügigkeitsrichtlinie eng auszulegen sei, dies gelte auch für den Begriff der  `Sozialhilfe´. Hierunter seien nicht die Leistungen zu fassen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Die endgültige Entscheidung, ob SGB II-Leistungen zu letzteren zählen, habe der EuGH zwar den nationalen Richtern überlassen, jedoch darauf hingewiesen, der Umstand, dass die Erwerbsfähigkeit Anspruchsvoraussetzung ist, könne dies nahe legen.

Die umstrittene Frage, ob das Gleichbehandlungsgebot für das SGB II eine Anbindung des EU-Bürgers oder der EU-Bürgerin an den deutschen Arbeitsmarkt voraussetzt, brauchte das Gericht nicht zu entscheiden, da der Kläger mehr als 20 Jahre in Deutschland gearbeitet und somit eine solche Anbindung hatte.

 

Da es in zu diesem Problemkreis noch keine einheitliche Rechtsprechung gibt, ließ das LSG Revision beim Bundessozialgericht in Kassel zu.

 

Entscheidung im Volltext

lsg_bayern_19_06_2013 (PDF, 53 KB, nicht barrierefrei)