VG Berlin, Urteil vom 17.10.2018
Aktenzeichen VG 17 K 5.17 A

Stichpunkte

Bemerkenswerte Entscheidung im Asylverfahren um Flüchtlingsanerkennung für Afghanin; afghanische Frauen mit stark westlich geprägter Identität stellen eine soziale Gruppe im Sinne des § 3 des Asylverfahrensgesetzes dar; Ausführungen zur Situation der Frauen in Afghanistan; verfolgungsrelevante westliche Prägung ist im Einzelfall zu prüfen

Zusammenfassung

Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Klägerin ist afghanische Staatsangehörige. Sie war mit ihrer Mutter und Schwester nach Deutschland eingereist, wo die Mutter für sich und ihre Töchter Asyl beantragte. Sie gab an, sie seien zunächst von Afghanistan in den Iran geflohen, da die Taliban zuerst den Vater verschleppt hätten und später, nach dessen Freilassung die ältere, neun Jahre alte Tochter mitnehmen wollten. Aus dem Iran seien sie mangels Aufenthaltsrechts mehrfach abgeschoben worden. Aus Angst um die jüngeren Kinder seien sie dann mit diesen nach Deutschland geflohen.

Das BAMF lehnte den Antrag auf Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz ab, stellte aber ein Abschiebehindernis fest.

Die hiergegen erhobene Klage begründete die Klägerin damit, dass sie mit Jungen gemeinsam Sportunterricht habe, Gitarre spiele und Jura studieren wolle, mithin in ihrer Identität bereits eine so weitgehend westliche Prägung habe, weswegen sie in Afghanistan von Verfolgung und auch von Zwangsheirat bedroht sei.

Das VG stellt für die Klägerin eine gruppenspezifische Verfolgungsgefahr wegen der Zugehörigkeit zur Gruppe der in ihrer Identität westlich geprägten Frauen gemäß § 3 Abs 1 des Asylgesetzes (AsylG) fest. Unter Bezug unter anderem auf eine Entscheidung des OVG Lüneburg vom 21.09.2015 führt es aus, dass afghanische Frauen, die durch längeren Aufenthalt in Europa in ihrer Identität stark westlich geprägt sind in Afghanistan von der Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Sie teilen einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund und seien als bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG einzuordnen.

Das Gericht macht unter Bezug auf Studien und Berichte Ausführungen zur Situation der Frauen in Afghanistan. Diese habe sich zwar teilweise verbessert, eine Gleichstellung aber sei nach wie vor schwierig. Insbesondere in ländlichen Regionen gäbe es nach wie vor Diskriminierungen, Zwangsheiraten und Verheiratungen von Mädchen unter 16 Jahren. Ein Leben für alleinstehende Frauen außerhalb des Familienverbundes sei kaum möglich.

Dies führe dazu, dass Rückkehrerinnen mit stark westlicher Prägung sich verstellen müssten, um Gewalt und Drohungen zu entgehen. Eine Teilnahme am öffentlichen Leben sei ihnen nicht möglich. Das Gericht verweist auf 58 dokumentierte Fälle (36 Tote, 22 Verletzte) von Gewaltanwendungen gegen Frauen aufgrund der sozialen Ablehnung von Frauen in Rollen außerhalb der traditionellen Normen.

Eine im Sinne des § 3 AsylG begründete Furcht vor Verfolgung läge allerdings nur dann vor, wenn die westliche Prägung derart verfestigt sei, dass eine Anpassung an die geforderten Verhaltensweisen nicht möglich bzw. zumutbar sei. Dies sei jeweils im Einzelfall zu beurteilen.

Im Fall der Klägerin war das Gericht durch ihr Auftreten und insbesondere ihren erklärten Wunsch zu studieren und einen Beruf zu ergreifen davon überzeugt, dass sie in ihrer Identität so nachhaltig westlich geprägt sein, dass ihr eine Rückkehr nach Afghanistan wegen der dort drohenden Verfolgung nicht zuzumuten und somit die Flüchtlingsanerkennung zuzusprechen sei.

Von einer Entscheidung darüber, ob der Klägerin im Falle einer Rückkehr, wie geltend gemacht, auch eine Zwangsverheiratung drohe, könne daher abgesehen werden.

Entscheidung im Volltext:

vg_berlin_(PDF_1,6_MB_nicht barrierefrei)