LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 8.7.2010
Aktenzeichen L 13 VG 25/07

Stichpunkte

Sozialgerichtsverfahren um Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen sexuellen Missbrauchs; Ausführungen zu Beweiswürdigung, speziell zur Beweiserleichterung wenn Beweismittel fehlen, wie häufig bei Fällen sexuellen Missbrauchs; keine Notwendigkeit einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung im sozialen Entschädigungsrecht.

Zusammenfassung

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg spricht der Klägerin Anspruch auf eine befristete Beschädigtenrente sowie eine Heilbehandlung wegen posttraumatischer Belastungsstörung zu.

Die Klägerin hatte 2001 beim Versorgungsamt Berlin Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) beantragt. Sie leide an psychischen Störungen aufgrund sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater und dessen Freund. Das Versorgungsamt hatte den Antrag abgewiesen, da die Taten, die 1972/1973 bzw. 1975/1976 stattgefunden haben sollten, nicht nachgewiesen seien. Die daraufhin erhobene Klage wies das Sozialgericht Berlin ab, da die Taten nicht ausreichend dargestellt seien.

Im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht schildert die Klägerin zwei Fälle sexueller Übergriffe durch ihren Vater. Die Erinnerungen seien im Rahmen von Therapien wieder hochgekommen.
Das Landessozialgericht hält die Taten für hinreichend erwiesen. Grundsätzlich muss eine Tat zwar so wahrscheinlich sein, dass sie nach Abwägung des Gesamtgeschehens zur richterlichen Überzeugung feststeht. Das war hier nicht der Fall. Der Vater hatte die Taten bestritten, Zeuginnen oder Zeugen standen nicht zur Verfügung. Der Bruder, der bei einer der Taten dabei gewesen sein sollte, hatte das Zeugnis verweigert. Der Freund des Vaters, der an der zweiten Tat beteiligt gewesen sein sollte, war inzwischen verstorben. Andere Beweismittel gab es nicht.
Das Gericht weist aber darauf hin, dass in solchen Fällen im Entschädigungsrecht Beweiserleichterungen gelten (§ 6 Absatz 3 Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit § 15 Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung). Wenn Unterlagen oder Beweise nicht zu beschaffen sind, sind danach die Angaben der Antragstellenden zugrunde zu legen, soweit sie glaubhaft erscheinen. Typischerweise greifen diese Beweiserleichterungen in Fällen sexuellen Missbrauchs, wo es selten Zeuginnen oder Zeugen gibt.
Die Angaben der Klägerin hielt das Gericht für glaubhaft. Nach ständiger Rechtsprechung reicht hierfür eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass es so gewesen sein könnte. Bestehende Zweifel schaden nicht. Dass die Klägerin die Angaben erst im Laufe des Verfahrens gemacht hatte, sprach nicht gegen die Glaubhaftigkeit.

Die vom Versorgungsamt geforderte Glaubwürdigkeitsbegutachtung lehnte das Gericht ab, da ein aussagepsychologisches Gutachten keinen Beweis über die Taten erbringen könne. Das Gericht stellt fest, dass die Praxis derartiger Begutachtungen im Strafprozess nicht auf das soziale Entschädigungsrecht übertragbar ist. Denn der strenge Beweismaßstab im Hinblick auf die Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung gilt im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes gerade nicht.
Das Gericht sieht auch als Folge der Taten eine posttraumatische Belastungsstörung bei der Klägerin gegeben. Eine Ursächlichkeit liegt vor, wenn mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht.
Da die Symptomatik der Klägerin sich inzwischen gebessert hatte, wurde die Rente nur befristet zugesprochen.

Entscheidung im Volltext:

LSG_Berlin_Brandenburg_08_07_2010 (PDF, 34 KB, nicht barrierefrei)