Lesenswerte, klarstellende Entscheidung im Asylverfahren um Abschiebeschutz für nigerianischen Vater; Bundesamt muss im Inland bestehende familiäre Bindungen bei Abschiebeentscheidungen berücksichtigen; widerspricht Abschiebung Kindeswohl und Recht auf Schutz familiärer Bindung, besteht Abschiebeverbot; dies gilt auch bei Entscheidungen über Abschiebeverbot eines Elternteils
Das Verwaltungsgericht (VG) spricht einem nigerianischen Kläger Abschiebeschutz zu. Der Mann hatte 2018 in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Er hat noch zwei Söhne mit einer Klägerin in einem anderen Verfahren, die auch noch eine jüngere Tochter aus einer anderen Verbindung hat. Der Mutter wurde nach der Geburt der Tochter, die die deutsche Staatsbürgerschaft hat, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erteilt. Die Mutter lebt mit den zwei Söhnen und der Tochter zusammen und erzieht diese. Der Kläger lebt nicht mit ihnen zusammen, pflegt aber eine enge Beziehung zu den Kindern, kümmert sich täglich um sie und bringt sie in den Kindergarten.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte seinen Asylantrag ab und forderte ihn zur Ausreise auf.
Auf seine Klage stellt das Verwaltungsgericht einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Dabei bezieht das VG sich insbesondere auf einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 15.02.2023 in einem Vorabentscheidungsverfahren, in dem festgelegt wird, dass § 60 Abs. 5 AufenthG unionsrechtskonform so auszulegen ist, dass das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Inland im Rahmen eines Verfahrens, das zu einer eine*n Minderjährige*n betreffenden Rückkehrentscheidung führen kann, schon vom BAMF zu prüfen und zu schützen sind. Nicht ausreichend sei, wenn der*die Minderjährige diese Rechte später im Rahmen möglicher Rechtsmittel gegen den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen könne.
Das VG legt dar, dass diese vom EuGH entwickelten Grundsätze im vorliegenden Fall Anwendung fänden, denn das Verfahren des BAMF führe zu einer Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 der Rückführungsrichtlinie. Daher habe diese unionsrechtlichen Anforderungen zu genügen und es seien in allen Stadien des zu der Abschiebeentscheidung führenden Verfahrens die Garantien der Rückführungsrichtlinie zu wahren und zwingend das Kindeswohl zu berücksichtigen.
Die sich daraus ergebende Pflicht zur Würdigung auch inländischer Sachverhalte sei bisher nicht Aufgabe des Bundesamts gewesen, ergäbe sich aber verbindlich aus dem Unionsrecht. Das VG verweist auf die Rechtsprechung des EuGH, nach der nicht nur die Familienverhältnisse im Herkunftsland, sondern auch inlandsbezogene Umstände, die das Kindswohl und die familiären Bindungen betreffen, schon vom BAMF zu berücksichtigen seien. Die bisherige Begründung, dass bei der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG zur Verfahrensbeschleunigung innerstaatliche familiäre Bindungen außer Acht zu lassen und erst von der Ausländerbehörde im Rahmen der Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen seien, erklärt das VG für überholt. Der EuGH habe vielmehr wiederholt deutlich gemacht (u.a. in EuGH vom 19.6.2018), dass es dem Unionsrecht widerspreche, die durch Art. 5 der Rückführungsrichtlinie geschützten Rechtsgüter, wie das Kindeswohl, erst im Rahmen der Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. Sie seien vielmehr in allen Stadien des zu einer Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens, hinreichend zu berücksichtigen. Daher sei es mit Unionsrecht nicht vereinbar anzunehmen, Aspekte des Familienschutzes dürften auch weiterhin vom Bundesamt unberücksichtigt bleiben.
Außerdem sei das Kindswohl nicht nur in Verfahren zu berücksichtigen, die zu einem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber Minderjährigen führten,
sondern ebenso in entsprechenden Verfahren gegenüber deren Eltern. Ergäbe die Würdigung der familiären Bindungen, dass eine Abschiebung des*der Betroffenen dem Kindswohl oder seinem*ihrem Recht auf Schutz der familiären Bindung widerspräche, sei das BAMF verpflichtet, für den*die Betroffene*n ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Für den Kläger stellt das VG fest, dass dieser zu seinen beiden 3 und 4 Jahre alten Söhnen trotz getrennter Wohnungen eine durch Art. 6 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützte familiäre Bindung aufrecht erhält. Die Mutter der Söhne habe über ihre Tochter, die Halbschwester der Söhne, die die deutsche Staatsangehörigkeit hat, eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und es sei auf unabsehbare Zeit weder von einer Ausreise der Mutter noch der Söhne des Klägers auszugehen. Das VG führt weiter aus, dass es nicht ausreiche, nur die Abschiebeandrohung aufzuheben, ohne dem Kläger ein Aufenthaltsrecht (sondern nur eine Duldung) zuzusprechen, da dies den unionsrechtlichen Anforderungen an die Berücksichtigung des Kindeswohls nicht gerecht würde. Es entstünde vielmehr ein Schwebezustand, in dem der Vater weder ein klares Bleiberecht noch eine Ausreisepflicht hätte, was für den Kläger und seine Söhne eine große Unsicherheit bezogen auf die Zukunft des Klägers und die gesamte familiäre Situation bedeute.
Da der Schutz des Kindeswohls und der familiären Bindung auch erst mit Vollendung des 18. Lebensjahres der Kinder des Klägers endeten, würde das für den Kläger bedeuten, über 15 Jahre geduldet und ohne rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zu leben. Eine so langfristige Duldung widerspricht nach Ansicht des VG jedoch der Rückführungsrichtlinie.
Daraus ergäbe sich, dass die Ausländerbehörde dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu erteilen habe, da aus den vom BAMF zu berücksichtigenden familiären Verhältnissen des Klägers ein Abschiebungsverbot aus humanitären Gründen gem. § 60 Abs. 5 AufenthG resultiere.
Das VG lässt eine Sprungrevision ausdrücklich zu, da die Frage, ob familiäre Bindungen, die einer Abschiebung entgegenstehen könnten, schon vom BAMF zu prüfen sind, grundsätzliche Bedeutung habe und das Urteil
einer Entscheidung des BVerwG vom 11. November 1997 widerspräche.
Entscheidung im Volltext:
vg_gelsenkirchen_13_06_2023 (PDF, 35 KB, nicht barrierefrei)