BVerwG, Urteil as of 6/13/2013
Aktenzeichen 10 C 16.12

Key issues

Interessante Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Visum für ein Kind aus Gambia zum Familiennachzug zu seinen in Deutschland lebenden gambischen Eltern und deutschen Geschwistern; Erläuterungen zur Unzumutbarkeit für deutsche Familienangehörige, Deutschland zu verlassen; umfassende Ausführungen zur Möglichkeit der Ausnahme von Regelvoraussetzung der Unterhaltssicherung für Visumserteilung zum Kindernachzug wegen atypischer Umstände; Ausnahme möglich, wenn Kernfamilie mindestens ein minderjähriges deutsches Kind angehört und nachziehendes Kind unter 13 Jahren ist

Summary

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) bestätigt einen Anspruch des minderjährigen Klägers auf ein Visum zum Nachzug zu seinen in Deutschland lebenden Eltern. Der Kläger ist ein 2000 geborener gambischer Staatsangehöriger. Seine Eltern sind ebenfalls Gambier und leben in Deutschland mit zwei weiteren 2007 und 2009 geborenen Kindern, die aufgrund einer früheren Ehe des Vaters mit einer Deutschen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Der Vater hat eine Niederlassungserlaubnis. Die 2006 nach Deutschland gezogene Mutter besitzt eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Ein Visumsantrag zum Kindernachzug des noch in Gambia bei seiner Großmutter lebenden Klägers wurde von der Deutschen Botschaft in Dakar abgelehnt, da der Lebensunterhalt in Deutschland nicht gesichert sei. Das Verwaltungsgericht hatte der Klage hiergegen zunächst stattgegeben, das Oberverwaltungsgericht diese jedoch dann abgewiesen, mit der Begründung, dass kein atypischer Fall vorläge, der ein Absehen von der Regelvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes ermögliche. Dies sieht das BVerwG anders. Es stellt zunächst fest, dass sich der Anspruch des Klägers trotz der deutschen Staatsangehörigkeit seiner Geschwister nach den Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes richtet. Die Eltern hatten die für die Visumserteilung zum Kindernachzug nach § 6 Absatz 3 i.V.m. § 32 Absatz 3 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel. Zwar sei die Regelvoraussetzung des § 5 AufenthG nicht erfüllt, da wegen des Sozialleistungsbezugs die Eltern der Lebensunterhalt nicht gesichert sei. Das BVerwG sieht aber die Möglichkeit der Ausnahme von der Regel gegeben. Es führt aus, dass eine solche Ausnahme durch verfassungs-, unions- oder völkerrechtliche Gewährleistungen oder durch bedeutende, atypische Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt sein kann. Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliege nicht dem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern sei gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar.  Das Gericht stellt die im Grundgesetz, der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Grundrechtscharta verbürgten Rechte auf familiäres Zusammenleben dar. Diese gäben zwar keinen direkten Anspruch auf Einreise, seien aber von Ausländerbehörden und Gerichten bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Bei der Abwägung zwischen dem durch § 5 AufenthG bezweckten Schutz der öffentlichen Kassen und den privaten Belangen der Familie sind die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots zu beachten. Das Gericht bemängelt diesbezüglich die fehlende Sachverhaltsaufklärung durch das Berufungsgericht in einigen Punkten. So sei zum Beispiel nicht geprüft worden, ob den deutschen Geschwistern des Klägers ein Leben in Gambia zuzumuten sei. Das BVerwG stellt Kriterien zur Prüfung einer solchen Unzumutbarkeit dar. Unabhängig von den fehlenden Feststellungen sah sich der Senat aber ohne weitere Sachaufklärung in der Lage, zugunsten des Klägers zu entscheiden, da aufgrund atypischer Umstände eine Ausnahme vom Regelfall anzunehmen sei. Atypischen Umstände seien darin zu sehen, dass die Kernfamilie des Klägers deutsche Staatsangehörige umfasst und diese bereits einen rechtmäßigen, dauerhaften Aufenthalt in Deutschland hat, somit der Lebensmittelpunkt in Deutschland liegt. Der Kläger war das einzige Familienmitglied, das außerhalb Deutschlands lebte und zudem noch unter 13 Jahre alt war. Allein der Umstand, dass einer Kernfamilie deutsche Minderjährige angehören, führe aber nicht grundsätzlich zu einem Absehen von der Pflicht zur Unterhaltssicherung, vielmehr müssten wie vorliegend weitere, atypische Umstände in einer wertenden Gesamtschau das Gewicht der Regelvoraussetzung beseitigen.

 

Entscheidung im Volltext:

bverwg_13_06_2013 (PDF; 112 KB, nicht barrierefrei)

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