EGMR, Urteil as of 1/19/2012
Aktenzeichen 39472/07 und 39474/07 `Popov gegen Frankreich´

Key issues

Bedeutende Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) um Verletzung Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK) durch Abschiebehaft für Familien mit Kindern; Kleinkinder dürfen höchstens kurzfristig und nur in geeigneten Unterbringungen mit Eltern in Abschiebehaft untergebracht werden; Nichtbeachtung kann Verstoß gegen Folterverbot aus Art 3 EMRK darstellen

Summary

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt Frankreich wegen Verstoßes gegen Art. 3 (Folterverbot) und Art. 8 (Achtung des Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und spricht eine Entschädigung in Höhe von 10.000 € zu.

Die Beschwerdeführer, eine kasachische Familie mit zwei Kindern im Alter von fünf Monaten und drei Jahren, waren nach Ablehnung ihrer Asylanträge für 15 Tage in einer Abschiebehaftanstalt untergebracht worden. Diese war nach französischem Recht für die Unterbringung von Familien vorgesehen.

Der EGMR prüft in seiner Entscheidung insbesondere die Verletzung des Verbots der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aus Art. 3 EMRK sowie der Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK.

Entscheidend war für den Gerichtshof bei der Beurteilung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK die Haftzeit von 15 Tagen, die der Gerichtshof zwar für `nicht exzessiv´ hält, die jedoch in der Kombination mit den Umstände der Haftunterbringung zu beurteilen seien. Diese waren wenig kindgerecht, es gab weder Spiel- noch Aufenthaltsmöglichkeiten für Kinder und die Bedingungen in der Haft wurden von den Eltern als überfüllt, verwahrlost und beengt beschrieben. Zwar seien die Kinder mit ihren Eltern zusammen gewesen, dies entbinde die Behörden aber nicht von ihrer Pflicht, die Kinder gemäß ihren besonderen Bedürfnissen zu schützen und hierzu angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um den positiven Verpflichtungen aus Art. 3 EMRK gerecht zu werden. Die Kinder seien zum Zeitpunkt der Inhaftierung erst wenige Monate bzw. 3 Jahre alt gewesen. 

Hierdurch sah der Gerichtshof zusammen mit dem durch die Situation bei den Eltern ausgelösten Stress eine traumatisierende Wirkung auf die Kinder gegeben. Das Ausmaß der schädlichen Folgen für die Kinder haben die Behörden nach Ansicht des EGMR verkannt. Die Anwendungsschwelle des Art. 3 EMRK sei daher überschritten und ein Verstoß hiergegen gegeben.

Ein solcher läge aber nur bezogen auf die Kinder vor. Hinsichtlich der Eltern sei die Auswirkung der Haftbedingungen nicht so gravierend, als dass es einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK begründen würde, insbesondere da die Familie während der Inhaftierung nicht getrennt wurde. 

Hinsichtlich einer Verletzung von Art. 8 EMRK stellt der Gerichtshof fest, dieser umfasse nicht nur das Gebot der Achtung des Familienlebens, sondern als positive Verpflichtung auch die Gewährung eines normalen Familienlebens. Dies sei vorliegend durch die 15-tägige Inhaftierung der Familie nicht gewährleistet gewesen, so dass auch ein Verstoß gegen Art 8 EMRK angenommen wurde.

 

Link zu einer inoffiziellen deutschen Übersetzung.

Entscheidung im englischen Volltext:

 

egmr_19_02_2012_english (PDF, 623 KB, nicht barrierefrei)

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