Interessante Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Italien wegen Verstoßes gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK); zum Umgangsrecht einer Betroffenen von Menschenhandel mit ihren Kindern während eines Adoptionsverfahrens; zur Bewertung des Kindeswohls; besondere Schutzbedürftigkeit von Betroffenen von Menschenhandel verpflichtet die Gerichte zu besonderer Wachsamkeit und erhöhtem Schutz; zur Berücksichtigung kulturell anderer Eltern-Kind-Beziehungen; Entschädigung für immatriellen Schaden in Höhe von 15.000 EUR.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt Italien im Fall A.I. gegen Italien wegen des Verstoßes gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und verurteilt Italien zur Zahlung von 15.000 EUR an die Mutter zweier Kinder, die zugleich Betroffene von Menschenhandel ist.
Die Klägerin ist eine nigerianische Staatsangehörige, die als Betroffene von Menschenhandel nach Italien gekommen ist. Sie ist Mutter von zwei 2012 und 2014 geborenen Kindern, mit denen sie 2014 in einer Flüchtlingsunterkunft lebte. Nachdem das jüngere Kind mit Windpocken ins Krankenhaus eingeliefert worden war und bei der Mutter selbst HIV nachgewiesen wurde, verlor die Mutter sukzessive für beide Kinder das Sorgerecht. Den Kindern wurden Vormünder bestellt und sie wurden getrennt voneinander in Kinderheimen untergebracht. Ein Zentrum zur Unterstützung missbrauchter Kinder wurde damit beauftragt, die Persönlichkeit und die elterlichen Fähigkeiten der Mutter sowie ihre geistige und körperliche Entwicklung zu begutachten.
2016 eröffnete das Gericht das Verfahren, um festzustellen, ob die Mutter die Kinder vernachlässigt habe. Es bestätigte die Aufhebung der elterlichen Sorge und ordnete an, dass die Kinder (weiterhin) in einem Kinderheim unterzubringen seien. Der Mutter wurden zwei Stunden Besuchszeit pro Woche erlaubt.
2017 wurde auf Grundlage eines Sachverständigengutachtens festgestellt, dass die Kinder durch die Mutter vernachlässigt seien. Die Kinder wurden zur Adoption freigegeben. Der Umgang der Mutter mit ihren Kindern wurde nun gänzlich untersagt. Dagegen hat die Mutter Rechtsmittel eingelegt. Bei der Anhörung wurde die Mutter darüber informiert, dass die Kinder mit Hinblick auf ihre Adoption in die Obhut zweier unterschiedlicher Familien gegeben worden seien. Während des Rechtsmittelverfahrens hielt das Gericht am Umgangsverbot fest und ordnete ein neues Sachverständigengutachten an. 2018 entschied das Berufungsgericht, dass die Entscheidung des unteren Gerichts aufrechterhalten bleibt. Es entnahm dem Sachverständigengutachten mangelnde elterliche Fähigkeiten der Mutter und fehlendes Problembewusstsein bezüglich ihrer eigenen Erkrankung, ihrer psychologischen Probleme und der Krankheit ihrer Tochter. Der Antrag auf Aufhebung des Umgangsverbots wurde zurückgewiesen.
Das nächsthöhere Gericht hob die Entscheidung 2020 auf und wies den Fall an eine andere Kammer des Berufungsgerichts zurück. Es stellte fest, dass ein Kind, sobald es für adoptionsfähig erklärt worden ist, in einer Familie unterzubringen sei. Die Beendigung des Kontakts zwischen dem biologischen Elternteil und dem Kind sei eine Folge der Adoption und nicht der Erklärung der Eignung zur Adoption. Die rechtlichen Bindungen zwischen den biologischen Eltern und dem Kind endeten mit der Adoptionserklärung. Bindungen zwischen biologischen Eltern und dem Kind seien nach Erlass des Adoptionsbeschlusses mit der Adoption nicht vereinbar.
Das Gericht stellte jedoch fest, dass das Berufungsgericht den Abschnitt des Sachverständigengutachtens nicht berücksichtigt hatte, in dem betont wird, dass für die Identitätsbildung der Kinder die Bindungen zu ihrer Mutter aufrechterhalten werden müsse. Es stellte ferner fest, dass das Berufungsgericht nicht geprüft hat, ob im vorliegenden Fall ein anderes Adoptionsmodell im Interesse der Kinder hätte angewendet werden können. Es hätte darüber hinaus prüfen müssen, ob das Interesse der Antragstellerin an der Aufrechterhaltung der Beziehung zu ihren Kindern gegenüber ihren mangelnden elterlichen Fähigkeiten überwiegt.
Die Klägerin wehrte sich gegen die automatische Beendigung des Umgangsrechts, obwohl das Verfahren noch über drei Jahre anhängig war. Sie beschwerte sich auch darüber, dass die Kinder im Hinblick auf ihre Adoption durch verschiedene Familien getrennt wurden.
Auf Grundlage dieses Sachverhalts stellt der EGMR einen Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) fest. Er konstatiert, dass der Umgangsausschluss dem Kindeswohl widerspricht. Hinweise darauf, dass die Kinder Gewalt oder Missbrauch ausgesetzt waren, habe es keine gegeben. Auch war der Umgang ausgeschlossen worden, obwohl das Adoptionsverfahren noch anhängig war. Die Unterbringung der Kinder in zwei verschiedenen Familien habe die Aufrechterhaltung der Geschwisterbeziehung verhindert und damit nicht nur die Auflösung der Familie, sondern auch die Trennung der Geschwister herbeigeführt.
Der Gerichtshof macht deutlich, dass die Klägerin Opfer von Menschenhandel geworden war. Die Behörden hatten ihr medizinische Versorgung und Sozialhilfe gewährt. Die Gerichte hingegen hatten ihre schutzbedürftige Lage bei der Beurteilung ihrer elterlichen Fähigkeiten und ihres Antrags auf Kontakt zu ihren Kindern nicht berücksichtigt. Im Fall von derart schutzbedürftigen Personen müssten die Behörden besondere Aufmerksamkeit walten lassen und einen verstärkten Schutz gewähren. Eine eingehende Prüfung diesbezüglich sei hier nicht erfolgt.
Aus den Entscheidungen des erstinstanzlichen Gerichts und des Berufungsgerichts ergebe sich, dass die elterlichen Fähigkeiten der Beschwerdeführerin ohne Berücksichtigung ihrer nigerianischen Herkunft erfolgt ist. Das in der afrikanischen Kultur anzutreffende Modell der Eltern-Kind-Bindung habe keine Berücksichtigung gefunden, obwohl dieser Faktor im Sachverständigengutachten deutlich hervorgehoben worden sei.
Das Verfahren habe ein Familienleben verhindert.
Der EGMR spricht der Klägerin einen Schadenersatz für erlittenen immateriellen Schaden nach billigem Ermessen in Höhe von 15.000 EUR zu.
Entscheidung im Volltext:
EGMR_01_04_2021.pdf (PDF, 287 KB, nicht barrierefrei, Französisch)
Pressemitteilung_EGMR_01_04_2021 (englisch)
AFFAIRE A.I. c. ITALIE deutsche Version (PDF, 417 KB, nicht barrierefrei, Deutsch)