ArbG Emden, Urteil as of 2/20/2020
Aktenzeichen 2 Ca 94/19

Key issues

Interessantes Urteil im Arbeitsgerichtsverfahren zur Vergütung von Arbeitszeiten; unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechte-Charta; Verpflichtung der Arbeitgeber*innen zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung; Nebenpflichten der Arbeitgeber*innen

Summary

Das Arbeitsgericht Emden (ArbG) spricht dem Kläger einen weiteren Vergütungsanspruch zu.

Der Kläger machte u.a. Vergütungsansprüche gegen seinen früheren Arbeitgeber geltend. Er war im Jahr 2018 für acht Wochen auf Grundlage eines mündlich geschlossenen Arbeitsvertrages als Bauhelfer mit einer Stundenvergütung von 13 EUR brutto beschäftigt. Im Nachhinein stritten Arbeitgeber und Arbeitnehmer über den Umfang der tatsächlich erbrachten Arbeitsleistungen und die daraus folgende Höhe der Vergütung. Der Kläger forderte eine noch ausstehende Vergütung von rund 156 EUR. Der Kläger legte dem Gericht seine handschriftlichen Eigenaufzeichnungen über die von ihm geleisteten Arbeitsstunden vor. Der Arbeitgeber stellte kein System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeiten seiner Arbeitnehmer*innen zur Verfügung.

Das ArbG führt zunächst aus, dass im Vergütungsprozess eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast gilt. Danach muss zunächst der*die Arbeitnehmer*in vortragen und darlegen, an welchen Tagen und in welchem Zeitraum er*sie für den*die Arbeitgeber*in gearbeitet hat oder sich im Bereitschaftsdienst befand. Im Anschluss muss der*die Arbeitgeber*in darlegen, an welchen Tagen und in welchen Zeiträumen er*sie dem*der Arbeitnehmer*in welche Arbeiten zugewiesen hat und ob der*die Arbeitnehmer*in diese Arbeiten auch tatsächlich geleistet hat. Kann der*die Arbeitgeber*in dies nicht substantiiert tun, gelten die Angaben des*der Arbeitnehmerin als zugestanden.

Das ArbG führt aus, dass sich die Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System zur Arbeitszeiterfassung einzuführen, aus Art. 3, 5 und 6 der Arbeitszeitrichtline 2003/88/EG in Verbindung mit Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta (GrCh) ergibt. Nach Art. 31 Abs. 2 GrCh hat jede*r Arbeitnehmer*in das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Eine Erfassung der täglichen und wöchentlichen Arbeitsstunden ist demnach notwendig, um überhaupt feststellen zu können, ob es sich bei den geleisteten Stunden um Arbeitszeit handelt, die über die vereinbarte Normalarbeitszeit hinausgeht und ob die vorgeschriebenen Ruhezeiten eingehalten werden (vgl. EuGH, Urteil vom 14.05.2019, C 55/18, Rs. CCOO, Rn. 47, 49). Diese Bestimmung ist aus Sicht des ArbG auch unmittelbar anwendbar. Es verweist hierzu auf die Rechtsprechung des EuGH, der in seinem Urteil vom 06.11.2018 (C-569/16, C-570/16) im Fall ‘Bauer und Willmeroth‘ hinsichtlich des in Art. 31 Abs. 2 GrCh ebenfalls normierten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub bereits entschieden hat, dass sich aus dieser Norm ein unmittelbarer Anspruch des*der Arbeitnehmer*in ergibt. Auch das verfolgte Ziel, nämlich die Gewährleistung gesunder, sicherer und würdiger Arbeitsbedingungen, sei in der Frage der Arbeitszeiterfassung identisch.

Diese Pflicht der Errichtung eines Systems der Arbeitszeiterfassung stellt laut ArbG eine vertragliche Nebenpflicht des*der Arbeitgeber*in im Sinne des § 241 Abs. 2 BGB dar.

Weiter legt das ArbG dar, dass der Beklagte gegen die ihn treffende Verpflichtung verstoßen hat, ein objektives und damit nachprüfbares, verlässliches, d.h. manipulationssicheres und zudem zugängliches, System zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Das vom Arbeitgeber als Nachweis vorgelegte ‘Bautagebuch‘ genüge diesen Anforderungen nicht. Dieses diene nur der Dokumentation des Bauablaufs. Es bezweckt nicht die Erfassung der Arbeitszeiten der beschäftigten Arbeitnehmer*innen, sondern nur die der von Architekt*innen und Ingenieur*innen erbrachten Grundleistungen. Für Arbeitnehmer*innen ist es als Zeiterfassung weder nachvollziehbar noch verlässlich. Darüber hinaus bilde das Bautagebuch keine etwaigen Anfahrts- und Rüstzeiten ab, die jedoch als Arbeitszeit zu vergüten seien, wenn der Kläger z.B. auf dem Beifahrersitz mit zu einer anderen Baustelle fuhr. Auch von Arbeitgeber*innen veranlasste Zeiten der ‘Untätigkeit‘, während der Arbeitnehmer*innen nicht frei über ihre Zeit verfügen können, seien als Arbeitszeit zu erfassen.

Nach alldem könne der Arbeitgeber keine verlässlichen und nachvollziehbaren Daten über die Arbeitszeiten und tatsächlich erfüllten Arbeiten des Klägers vorlegen. Das ArbG legt dar, dass demgegenüber der Kläger mit den angefertigten Eigenaufzeichnungen seiner Darlegungslast ausreichend nachgekommen ist. Das Gericht legt daher die Angaben des Klägers zu seinen Arbeitszeiten seinem Urteil zugrunde.

 

Entscheidung im Volltext:

ArbG_Emden_20_02_2022.pdf (PDF, 175 KB, nicht barrierefrei)

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