Positive Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Flüchtlingsanerkennung für zwangsverheiratete Tschetschenin; umfangreiche Ausführungen zur Situation der Frauen in Tschetschenien; zur Gefährdungsprognose bei Zwangsverheiratungen; subsidiärer Schutz für Töchter
Das Verwaltungsgericht (VG) verpflichtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutz zuzuerkennen. Die Klägerinnen sind eine Mutter und ihre drei Töchter, die russische Staatsangehörige mit tschetschenischer Volkszugehörigkeit sind. Sie waren über Polen eingereist, sollten daher im Dublin-Verfahren dorthin zurücküberstellt werden, wogegen sie jedoch erfolgreich geklagt hatten. In der daraufhin erfolgten Anhörung in ihrem Asylverfahren hatte die Frau erklärt, aus Angst vor Verfolgung durch ihren Ehemann aus Tschetschenien geflohen zu sein. Sie sei mit diesem 2010 zwangsverheiratet worden. Sie habe versucht sich scheiden zu lassen, ihr Ehemann habe sie aber bedroht und versucht zu ermorden. Er sei Polizist und daher nicht bestraft worden. Deswegen sei sie mit ihren Töchtern geflohen und habe zunächst in verschiedenen Städten gewohnt, sich aber nirgends sicher gefühlt, daher sei sie aus der russischen Föderation ausgereist.
Das Bundesamt hat die Asylanträge abgelehnt, da es die Angaben der Frau für unglaubhaft und nicht flüchtlingsrechtlich relevant hielt. Außerdem bestünden inländische Fluchtalternativen für die Frau und ihre Töchter.
Das VG widerspricht dem. Es hält die Angaben, die die Klägerin zu ihrem Verfolgungsschicksal gemacht hat, für glaubhaft und begründet dies ausführlich unter anderem mit dem Aussageverhalten der Frau während ihrer Anhörung in der Verhandlung.
Das Gericht legt ausführlich dar, warum eine Zwangsverheiratung eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 6 Asylgesetz (AsylG) und schwere Menschenrechtsverletzung darstellt und verweist dabei auch auf weitere Rechtsprechung zu dem Thema wie z.B.VG Hannover Urteil vom 03.03.2020 und VG Gießen Urteil vom 02.09.2019.
Die Klägerin sei in der Ehe von ihrem Mann durch physische, psychische und sexuelle Gewalt misshandelt worden und nachdem sie die Scheidung eingereicht hatte, Opfer eines Mordversuches durch ihren Mann geworden. Diese Verfolgungshandlungen knüpften auch an ihre Geschlechtszugehörigkeit an. Staatlichen Schutz vor der Verfolgung habe die Frau nicht zu erwarten, schon weil ihr Mann Polizeibeamter sei.
Das Gericht macht unter Hinweis auf verschiedene Erkenntnisquellen Ausführungen zur Situation der Frauen in Tschetschenien. Deren Rechte würden massiv missachtet. Ehrenmorde, häusliche Gewalt und Entführungen seien immer noch ein großes Problem. Es würden verschiedene Rechtssysteme nebeneinander existieren und Gerichtsentscheidungen nicht umgesetzt werden. Die lokalen Behörden befolgten eher die Tradition als die russischen Rechtsvorschriften.
Die Vermutung einer erneuten Verfolgung sei nicht zu widerlegen.
Das VG macht weiterhin Ausführungen zur Gefährdungsprognose bei Zwangsverheiratungen. Abzustellen sei hierbei auf das jeweilige soziale Umfeld und möglichen Schutz durch die Familie. Für die Klägerin sieht das Gericht eine beachtliche Gefahr erneuter geschlechtsspezifischer Verfolgung bis hin zur Tötung. Unterstützung durch die Familie habe sie nicht zu erwarten. Verschärfend käme hinzu, dass sie zwischenzeitlich Mutter einer unehelichen Tochter wurde, von der die Familie nichts wisse. Sie habe daher mit Verstoßung und Diskriminierung zu rechnen.
Inländische Fluchtalternativen schieden aus, da der Mann als Polizeibeamter die Möglichkeiten habe, sie aufgrund der obligatorischen Registrierung überall ausfindig zu machen.
Für die beiden Töchter, für die die Mutter ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte, lehnt das VG diesen ab, gewährt aber subsidiären Schutz. Die Mutter hatte angegeben, ihre Töchter seien von Gewalt durch ihren Vater und gewaltsamer Trennung von ihrer Mutter bedroht. Dies stellt nach Ansicht des Gerichts keinen Asylgrund dar, begründe aber einen Anspruch auf subsidiären Schutz gemäß § 4 Abs. 1 AsylG, da hierin schwerwiegende Eingriffe in ihre Menschenrechte sowohl auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 (Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als auch auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK zu sehen seien, welches auch das Recht umfasse, mit seinen Eltern zusammenzuleben.
Auch die Töchter hätten insoweit keinen Schutz durch staatliche Stellen zu erwarten.
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