OLG Hamburg, Urteil as of 3/8/2018
Aktenzeichen 1 Ws 114/17

Key issues

Bedeutende Entscheidung im Strafverfahren wegen häuslicher Gewalt mit ausführlichen Begründungen; Gericht sieht unter mittelbarer Anwendung der Istanbul-Konvention unbenannten Fall besonders schwerer Nötigung; Beweisverwertungsverbot erfasst nicht Aussage vor dem Familiengericht zum Antrag auf einstweilige Schutzanordnung nach Gewaltschutzgesetz; Ermittlungsbehörden müssen bei nicht unerheblichen Taten richterliche Vernehmung beantragen, wenn Aussage einer zeugnisverweigerungsberechtigten Person maßgeblich für Beweisführung im späteren Strafverfahren

Summary

Das Oberlandesgericht erklärt mit seinem Beschluss das Amtsgericht und nicht das Landgericht für die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen einen Mann wegen häuslicher Gewalt für zuständig.

Der Mann soll seine Ex-Frau geschlagen, gefesselt und geknebelt und sie gezwungen haben, einen Abschiedsbrief zu schreiben und danach in die gefüllte Badewanne zu steigen, in die er einen eingeschalteten Fön werfen wollte. Bevor es soweit kam, gelang es der Frau zu fliehen. Die Frau, die die einzige Zeugin des Geschehens war, hatte sowohl im Rahmen des Ermittlungsverfahrens bei der Polizei Angaben zur Tat gemacht als auch vor dem Familiengericht, als sie einen Antrag nach dem Gewaltschutzgesetz stellte. Sie war aber nicht richterlich vernommen worden. Die Frau erklärte später, sich in einem Strafverfahren auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen. Das Hauptverfahren gegen den Mann wurde vor dem Amtsgericht wegen versuchter Nötigung eröffnet. Wegen des ebenfalls angeklagten versuchten Totschlages sah die Schwurgerichtskammer keinen hinreichenden Tatverdacht. Die hiergegen von der Staatsanwaltschaft erhobene sofortige Beschwerde blieb ohne Erfolg.

Das OLG bestätigt diese Entscheidung überwiegend. Es führt aus, dass zwar ein hinreichender Tatverdacht eines versuchten Totschlages gegeben sei, da die Angaben der Frau vor dem Familiengericht nicht dem Beweisverwertungsverbot des § 252 StPO unterfielen. Das Gericht macht umfassende Ausführungen zum Vernehmungsbegriff und stellt fest, dass maßgeblich ist, ob eine Aussage amtlich initiiert war. Nicht dem Beweisverwertungsverbot unterfielen Angaben, die Zeug*innen von sich aus gegenüber Amtspersonen machten. Ausführlich legt das OLG dar, warum die Angaben vor dem Familiengericht danach nicht dem Vernehmungsbegriff des § 252 StPO entsprechen.

Weiter erläutert das Gericht umfassend, dass der Angeklagte zwar eines versuchten Totschlages verdächtig sei, aber ein strafbefreiender Rücktritt von diesem Versuch nicht auszuschließen sei, so dass eine Zuständigkeit des Landgerichts entfiele.

Das OLG sieht aber einen hinreichenden Tatverdacht bezogen auf eine Körperverletzung und eine schwere Nötigung gem. § 240 Abs. 1 und 4 StGB gegeben. Hierzu führt es aus, dass nach den Angaben der Frau und auch den Einlassungen des Angeklagten eine Verurteilung aus dem Strafrahmen der besonders schweren Nötigung wahrscheinlich sei.

Ein solcher unbenannter besonders schwerer Fall der Nötigung für das Deliktsphänomen der häuslichen Gewalt liegt nach Ansicht des OLG unter Verweis auf das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (sog. Istanbul-Konvention) regelmäßig vor, wenn der Täter die Unterlegenheit des Opfers über einen längeren Zeitraum ausnutzt, bzw. die (Ex-) Partner*in demütigt oder gefügig machen will.

Dies sah das Gericht vorliegend gegeben.

 

Hervorzuheben ist auch die abschließende Bemerkung des Senats, dass die Ermittlungsbehörden zur Beweissicherung durch eine ermittlungsrichterliche Vernehmung verpflichtet sind, wenn absehbar ist, dass sich die Beweisführung im Strafverfahren maßgeblich auf eine zeugnisverweigerungsberechtigte Person stützen wird. Dies ergebe sich schon aus dem Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege. Umfassend führt das OLG aus, dass auch die Verpflichtung aus Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention Behörden und Gerichte zu wirksamen Ermittlungen zu behaupteten Misshandlungen verpflichtet. Dies gelte vor dem Hintergrund des Art. 49 Abs. 2 der Istanbul-Konvention insbesondere in Fällen häuslicher Gewalt. Können Täter*innen später mangels Zeug*innenaussagen nicht verurteilt werden, erschüttere das das Vertrauen in den Rechtsstaat. Anträge der Staatsanwaltschaft auf richterliche Vernehmung dürften daher in solchen Fällen nicht abgelehnt werden.

 

Entscheidung im Volltext:

olg_hamburg_18_03_2018 (PDF, 6,6 MB, nicht barrierefrei)

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