Rechte von Betroffenen
Betroffene von Menschenhandel und Ausbeutung befinden sich meist in einer sehr schwierigen und vulnerablen Situation. Diese zu überwinden, kann eine große Herausforderung darstellen. Allerdings haben Betroffene auch unterschiedliche Rechte, die ihnen helfen sollen. Die Rechtsansprüche werden ihnen durch verschiedene nationale und internationale Rechtsgrundlagen garantiert. So gibt es unterschiedliche Rechtsinstrumente von den Vereinten Nationen (UN), der Europäischen Union (EU), der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und des Europarats, die für einen verbesserten Betroffenenschutz bindend sind.
In der Vergangenheit standen bei der Bekämpfung von Menschenhandel organisierte Kriminalität und Täter*innen im Fokus, inzwischen erhalten auch die von Menschenhandel betroffenen Personen oft mehr Aufmerksamkeit. Damit werden Aspekte des Schutzes der Menschenwürde stärker betont.
Die Wahrnehmung ihrer Rechte ist für Betroffene von Menschenhandel schwierig – oftmals kennen sie sich nicht gut mit der Rechtslage aus und Sprachbarrieren erschweren den Zugang. Hinzu kommt auch, dass viele Rechtsmittel nicht optimal und praxistauglich für Betroffene gestaltet sind.
Der KOK fordert eine bessere Umsetzung der Rechte von Betroffenen. Dazu zählt, dass den Betroffenen durch Entschädigungsansprüche und erleichterte Verfahren sowie einen temporären aufenthaltsrechtlichen Schutz selbst Mittel in die Hand gegeben werden sollen, um Rechte gegenüber Täter*innen und Staat geltend zu machen.
Betroffene von Menschenhandel aus Drittstaaten, die sich für eine Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden entscheiden, können unter bestimmten Umständen einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a oder 4b Aufenthaltsgesetz (AufenthG) erhalten. Dieser wird zunächst für ein Jahr erteilt und ist an die Dauer des Strafverfahrens geknüpft. Nach Beendigung des Strafverfahrens soll die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, wenn humanitäre oder persönliche Gründe oder öffentliche Interessen die weitere Anwesenheit der*des Ausländer*in im Bundesgebiet erfordern.
Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a AufenthG sind:
- die Anwesenheit der Betroffenen wird für ein Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet, weil ohne die Angaben der Opferzeug*innen die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre,
- die Person hat jede Verbindung zu denjenigen, die beschuldigt werden, die Straftat begangen zu haben, abgebrochen und
- die*der Betroffene ist bereit, in dem Strafverfahren wegen der Straftat als Zeug*in auszusagen.
Personen, die einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a AufenthG besitzen, sind berechtigt Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.
Die Voraussetzung, dass die Anwesenheit als notwendig erachtet wird, stellt eine große Hürde dar, da die Aussagen der Betroffenen oft als unzureichend erachtet werden. Der KOK setzt sich deshalb für ein vom Strafverfahren unabhängiges Aufenthaltsrecht für Betroffene von Menschenhandel ein.
§ 25 Abs. 4b AufenthG regelt einen vorläufigen Aufenthaltstitel für Ausländer*innen aus Drittstaaten, die in Deutschland in einem auffälligen Missverhältnis zu deutschen Arbeitnehmer*innen und ohne Arbeitserlaubnis beschäftigt wurden. Die Aufenthaltserlaubnis kann nach Abschluss des Verfahrens nur verlängert werden, wenn der betreffenden Person noch Vergütungsansprüche zustehen und es eine besondere Härte bedeuten würde, diese aus dem Ausland zu verfolgen. In der Praxis spielte dieser Aufenthaltstitel kaum eine Rolle und wird nur selten erteilt.
Eine weitere Möglichkeit, einen regulären Aufenthalt in Deutschland zu sichern, ist das Asylverfahren.
Das Asylverfahren kann neben der Möglichkeit über § 25 Abs. 4a AufenthG einen Aufenthaltstitel zu erhalten, eine aufenthaltsrechtliche Alternative für von Menschenhandel betroffene Personen sein. Ein Asylverfahren schafft aber nicht den gleichen Zugang zu Strafverfolgung, Schutz und Fachberatung.
In der Beratungspraxis der Fachberatungsstellen zeigt sich, dass viele Betroffene Asyl beantragen, um Schutz und eine Bleibeperspektive zu erhalten – auch weil die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a AufenthG sehr hoch sind. Allerdings sind die Anerkennungsraten in Asylverfahren eher gering.
Es gibt vier verschiedene Schutzformen: Asylberechtigung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz oder ein Abschiebungsverbot. Diese können durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beschieden werden und sind im Asylgesetz (AsylG), Grundgesetz und Aufenthaltsgesetz zu finden.
Die umfangreichste Schutzform ist der Flüchtlingsschutz. Menschenhandel und Ausbeutung kann zu einer Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen. Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung sind Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. Betroffene können zudem auf der Flucht oder bei Rückkehr ins Heimatland einem großen Risiko ausgesetzt sein, erneut ausgebeutet und/oder diskriminiert zu werden.
Zur Sicherung ihres Lebensunterhalts können hilfsbedürftige Betroffene von Menschenhandel Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Welche Leistungen sie erhalten können, richtet sich dabei nach dem Aufenthaltsrecht.
Deutschen Betroffenen werden in hilfebedürftigen Notlagen Leistungen der Sozialhilfe und Grundsicherung nach dem zweiten oder zwölften Sozialgesetzbuch gewährt (SGB II/XII).
Während der Bedenk- und Stabilisierungsfrist haben Betroffene aus Drittstaaten Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. EU-Bürger*innen können in diesem Zeitraum Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch erhalten. Dazu müssen sie eine Bescheinigung zum Vorliegen von Anhaltspunkten von Menschenhandel beim Jobcenter einreichen.
Personen mit einem Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a oder 4b Aufenthaltsgesetz erhalten Leistungen nach SGB II.
EU-Bürger*innen haben regelmäßig Schwierigkeiten beim Leistungsbezug. Jobcenter verlangen oftmals, dass sie über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4a oder 4b AufenthG verfügen. Regelmäßig benötigen sie jedoch aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes (FreizügG/EU) in Deutschland kein Visum und keinen Aufenthaltstitel. Aufgrund des Schlechterstellungsverbots dürfen sie nicht gegenüber Drittstaatsangehörigen benachteiligt werden. Deshalb muss es zu einer rein fiktiven Prüfung der Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel kommen. Ämter stellt dieser Vorgang aber vor besondere Herausforderungen.
Betroffene von Menschenhandel leiden häufig sowohl unter physischen Schäden, zum Beispiel als Folge von Gewalt durch Täter*innen, mangelnder Gesundheitsversorgung oder schlechte Verpflegung als auch unter psychischen Schäden wie Traumatisierungen. Zudem wird vielen Betroffenen von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung ein Teil des Lohns oder häufig auch der gesamte Lohn für die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten nicht ausgezahlt. Gleichzeitig erzielen die Täter*innen durch die Tätigkeiten, die Betroffene von Menschenhandel für sie ausüben, einen hohen Gewinn.
Unter Entschädigung wird der Ausgleich für einen entstandenen oder erlittenen Schaden verstanden. Entschädigungsleistungen können in Form von Schadensersatzleistungen oder Schmerzensgeld erfolgen. Da die Betroffenen durch den Menschenhandel sowohl in materieller als auch in immaterieller Hinsicht großen Schaden erleiden, ist es wichtig, ihnen geeignete Rechtsbehelfe zu ermöglichen. Das trägt dazu bei, dass sie nicht nur ihren Anspruch auf Lohn, sondern auch auf eine angemessene Entschädigung effektiv durchsetzen können. Obwohl in der Bundesrepublik die rechtlichen Grundlagen für die Entschädigung und die Auszahlung vorenthaltener Löhne gegeben sind, gibt es für die Betroffenen in der Praxis eine Reihe von Gründen, die sie an der Durchsetzung ihrer Rechte hindern.
Entschädigung durch die Täter*innen im Strafverfahren
Zivilrechtliche Ansprüche können aus § 823 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) geltend gemacht werden. Gemäß § 823 Abs. 1 BGB ist, wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet. Darüber hinaus können gemäß § 823 Abs. 2 BGB Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, wenn Täter*innen sich gem. §§ 232 ff. Strafgesetzbuch (StGB) strafbar gemacht haben.
Neben dem Ausgleich von materiellen Schäden kann gemäß § 253 Abs. 2 BGB bei Körperverletzung, Gesundheitsschädigung, Freiheitsberaubung und Verletzung des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung auch Schmerzensgeld gefordert werden.
Adhäsionsverfahren
Im Adhäsionsverfahren (geregelt in §§ 403 ff. StPO) kann ein Strafgericht auf Antrag des Klägers oder der Klägerin über zivilrechtliche Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüche auch im Rahmen eines Strafverfahrens entscheiden. Voraussetzungen hierfür sind, dass ein Strafverfahren eingeleitet wurde, eine Hauptverhandlung stattfindet und die Täter*innen hinsichtlich der mit den Ansprüchen zusammenhängenden Straftaten verurteilt werden.
Der Vorteil dieses Vorgehens ist, dass während des Strafverfahrens schon die zivilrechtlichen Ansprüche der Betroffenen geprüft und notwendige Beweise gesammelt werden, ob beispielsweise eine Körperverletzung vorliegt. Mit der gleichzeitigen Abhandlung in einem Verfahren kann eines weiteres Verfahren mit überschneidenden Inhalten vermieden werden und Zeit gespart werden. Zu Herausforderungen kann es jedoch kommen, wenn komplexere zivilrechtliche Fragestellungen hinzutreten, die üblicherweise nicht von den Strafgerichten beurteilt werden. In diesen Fällen kann es für die Betroffenen zielführender und rechtsschutzintensiver sein, diese Ansprüche auf unmittelbarem Wege bei den Zivilgerichten zu verfolgen.
Arbeitsrechtliche Ansprüche auf Bezahlung des Lohnes
Ausstehende Lohnansprüche können gemäß § 611 BGB geltend gemacht werden. Hierfür muss ein Arbeitsvertrag bestanden haben. Auch ohne Aufenthalts- oder Arbeitserlaubnis haben Betroffene Zugang zur deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit. Allerdings ist zu beachten, dass die Ausländerbehörde oder das Finanzamt Kenntnis von der aufenthaltsrechtlichen Situation der Betroffenen erhalten kann. Daher besteht für die Betroffenen ohne rechtmäßigen Aufenthaltstitel die Gefahr, dass sie abgeschoben werden könnten oder andere Konsequenzen ihrer aufenthaltsrechtlichen Situation fürchten müssen.
Die Ansprüche auf Bezahlung des Lohnes durchzusetzen, ist nicht leicht. Zum einen ist es für Betroffene oft schwierig, die nötigen Beweise für ihre Ansprüche zu erbringen. Ein weiteres Hindernis sind die kurzen Fristen, innerhalb derer es nur möglich ist, die Ansprüche geltend zu machen.
Wenn aufgrund einer Vertragsverletzung den Arbeitnehmer*innen im Rahmen des Arbeitsverhältnisses ein weiterer Schaden entstanden ist, können zudem nach §§ 280, 249 ff. BGB Ansprüche auf finanzielle Entschädigung bestehen.
Entschädigungsansprüche gegenüber dem Staat: Soziales Entschädigungsrecht
Auch gegenüber dem Staat gibt es unter Umständen für Betroffene von Menschenhandel Ansprüche auf Entschädigung. Anfang 2024 ist das Soziale Entschädigungsrecht (SGB XIV) vollumfänglich in Kraft getreten, es löst das ehemalige Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab.
Leistungen der Sozialen Entschädigung können nach dem SGB XIV Geschädigte sowie deren Angehörigen, Hinterbliebene und Nahestehende erhalten. Das Recht gilt für deutsche Staatsangehörige genauso wie für Ausländer*innen. Voraussetzungen für einen Anspruch von Geschädigten sind das Vorliegen einer körperlichen oder einer psychischen Gewalttat (zum Beispiel Menschenhandel), einer gesundheitlichen Schädigung sowie daraus resultierende gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen.
Das Leistungsspektrum umfasst unter anderem Krankenbehandlungen, Entschädigungszahlungen oder einen Berufsschadensausgleich. Zudem besteht ein Anspruch auf sogenannte „Schnelle Hilfen“, eine Akutversorgung in einer Traumaambulanz und/oder die Inanspruchnahme eines Fallmanagements zur Verbesserung des Zugangs zum SGB XIV.
Der KOK hat zusammen mit der Bundeskoordinierung spezialisierter Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend (BKSF) und dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) eine Praxishandreichung zum Sozialen Entschädigungsrecht erarbeitet.
Strafverfahren sind für die Betroffenen meist sehr belastend. Deshalb ist eine professionelle Unterstützung hilfreich, um das Verfahren transparent zu machen und Betroffenen die Möglichkeit zu geben, selbst ihre Rechte wahrzunehmen und das Verfahren in ihrem Sinn zu gestalten.
Die Bedürfnisse können dabei sehr unterschiedlich sein. Nicht alle Betroffenen möchten in Verfahren aussagen, nicht alle möchten, dass Täter*innen bestraft werden, einige sind vor allem an einer angemessenen Entschädigung interessiert. Manche möchten möglichst schnell alles vergessen und hinter sich lassen.
Viele Beratungsstellen haben jahrelange Erfahrungen in der Begleitung von betroffenen Personen vor, während und nach einem Strafverfahren. Zudem besteht die Möglichkeit der Unterstützung durch eine psychosoziale Prozessbegleitung nach § 406g der Strafprozessordnung (StPO).
Wichtig ist, dass die betroffenen Personen ihre Rechte im Verfahren kennen und verstehen. Dazu gehören insbesondere:
- Die Betroffenen haben im Strafverfahren umfangreiche Informations- und Auskunftsrechte. Nach § 406d StPO kann eine betroffene Person Auskunft über den Stand des Verfahrens beantragen. Betroffene können nach § 406d Abs. 2 StPO auch andere Informationen einholen: Zum Beispiel, ob Täter*innen in Haft sind und vor allem, ob und wann sie wieder aus der Haft entlassen werden. Darüber hinaus sind Information zur Gewährung von Vollzugslockerungen, wie Ausgang oder offener Vollzug, von großer Bedeutung für Betroffene, wenn sie eine Gefährdung befürchten.
- Nach § 48a StPO ist während des gesamten Strafverfahrens stets die besondere Schutzbedürftigkeit des*r Zeug*in zu prüfen. Ausdruck des besonderen Schutzes der betroffenen Personen ist beispielsweise die Möglichkeit, dass nicht die eigene Anschrift, sondern eine andere ladungsfähige Anschrift benannt werden kann. Dies können Bekannte, eine Arbeitsadresse, eine Fachberatungsstelle oder beauftragte Rechtsanwält*innen sein.
- Jede betroffene Person hat das Recht auf Begleitung durch einen Rechtsbeistand bei einer Vernehmung. In besonderen Fällen können Rechtsanwält*innen gem. § 68b Abs. 2 StPO beigeordnet und aus der Justizkasse bezahlt werden.
- Zeug*innen, die von Menschenhandel betroffen sind, können sich gem. § 406f Abs. 2 StPO durch eine Person ihres Vertrauens begleiten lassen, sofern dies nicht den Untersuchungszweck gefährdet.
- Für Betroffene von schweren Delikten wurde die Möglichkeit der Nebenklage nach § 395 StPO geschaffen, um sie aktiv am Strafverfahren zu beteiligen. Sie sollen dabei nicht nur „Beweismittel“ und damit Objekt des Verfahrens sein, sondern eigene Rechten wahrnehmen und neben der Anklage in dem Strafverfahren agieren können.
Darüber hinaus haben die Betroffenen als Zeug*innen im Strafverfahren auch Pflichten, beispielsweise die Erscheinungspflicht und die Pflicht, wahrheitsgemäß auszusagen. Unter bestimmten Umständen können sie allerdings auch vom Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen.
Das Non-Punishment-Prinzip sieht ein Recht Betroffener von Menschenhandel auf Absehen von Strafe vor. Betroffene sollen demnach nicht für Vergehen verfolgt und bestraft werden, die sie im Zusammenhang mit Menschenhandel und unter Druck begangen haben. Das Prinzip soll Betroffene schützen, wenn sie nicht für das Begehen der Tat verantwortlich sind. Außerdem soll es sie ermutigen, Menschenhandel anzuzeigen.
Die Implementierung des Prinzips ist durch die EU-Menschenhandelsrichtlinie (RL 2011/36/EU) sowie die Europaratskonvention gegen Menschenhandel vorgegeben und sieht eine weitgehende Straffreistellung der Betroffenen von Menschenhandel für ihre Beteiligung an strafbaren Handlungen in unmittelbarem Zusammenhang mit Menschenhandel vor. Im deutschen Recht wurde diese Vorgabe mit § 154c Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO) umgesetzt. Hiernach kann die Staatsanwaltschaft von der Verfolgung einer vorgeworfenen Straftat, wie beispielsweise nach dem Aufenthaltsgesetz (illegaler Aufenthalt), absehen. Voraussetzung ist, dass die Straftat erst durch die Anzeige der betroffenen Person des Menschenhandels bekannt wird oder die Anzeige zumindest unmittelbar auf den*die Betroffene*n zurückgeht und es sich um ein Vergehen handelt. Das heißt, die Straftat darf nicht mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sein.
Die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens liegt im Ermessen der Staatsanwaltschaft. In der Praxis wird das Prinzip in Deutschland selten angewandt. Von der Möglichkeit, das Non-Punishment-Prinzip so anzuwenden, dass gegen die Betroffenen erst gar kein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, wird in Deutschland kein Gebrauch gemacht.
Weitere Informationen finden Sie in diesem Advocacy Dokument und der Erklärung dazu, die vom KOK im Zusammenarbeit mit La Strada International erstellt wurden.
Unabhängig davon, ob Betroffene in strafrechtlichen Ermittlungen als Zeug*innen aussagen, haben sie Anspruch auf Unterstützungs- und Betreuungsleistungen. Das Recht auf Unterstützung ist unter anderem in Artikel 11 der EU-Menschenhandelsrichtlinie (RL 2011/36/EU) und Artikel 12 der Europaratskonvention gegen Menschenhandel verankert.
Konkret beinhaltet das:
- Angemessene und sichere Unterbringung in ausreichender Anzahl: Viele Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel bieten sichere Unterkünfte, beispielsweise in Schutzwohnungen, an. Teilweise werden Betroffene auch in Pensionen oder Frauenhäusern untergebracht. Allerdings gibt es in Deutschland zu wenig Plätze zur sicheren Unterbringung. Insbesondere für Kinder, Männer, Familien oder trans* Personen fehlt es an Möglichkeiten und es müssen immer wieder kurzfristig Lösungen gefunden werden oder auf ungeeignete Angebote wie Obdachlosenunterkünfte ausgewichen werden.
- Recht auf medizinische und psychologische Unterstützung: Betroffene von Menschenhandel sind häufig aufgrund der Zwangs- und Ausbeutungssituation physisch und/ oder psychisch krank und benötigen medizinische und psychologische Unterstützung. Bei Drittstaatsangehörigen, die durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) unterstützt werden, werden viele Leistungen nicht oder nur im Notfall übernommen. Darüber hinaus gibt es insbesondere beim Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen große Probleme. Grund dafür ist nicht nur die Frage der Finanzierung oder der Sprachbarriere, sondern auch die Tatsache, dass in Deutschland ein Mangel an Therapieplätzen besteht.
- Recht auf Beratung und Information: Zur Wahrnehmung ihrer Rechte müssen Betroffene über Angebote informiert werden. Beratung und Unterstützung bieten spezialisierte Fachberatungsstellen. Wenn Betroffene den Weg zu Beratungsstellen nicht selbst finden, sind Strafverfolgungsbehörden verpflichtet, sie auf ihre Rechte außerhalb des Strafverfahrens hinzuweisen. In Regionen, wo Fachberatungsstellen ansässig sind, gibt es oftmals gut etablierte Kontakte zu den Polizeidienststellen. Wenn das nicht der Fall ist oder die Strafverfolgungsbehörden nicht für Menschenhandel sensibilisiert sind, bleibt Betroffenen das Recht auf Beratung häufig verwehrt.
Die im KOK zusammengeschlossenen spezialisierten Fachberatungsstellen arbeiten nach gemeinsamen Leitprinzipien und Qualitätsstandards. Die Beratung ist kostenlos, vertraulich und anonym. Sie ist unabhängig davon, ob die Betroffenen eine Anzeige gegen die Täter*innen machen möchten oder nicht. Sie findet in der Regel in der Erstsprache der Betroffenen oder mit Unterstützung von Sprachmittler*innen statt. Ein wichtiger Grundsatz der Beratung ist Transparenz, das heißt, die Berater*innen zeigen klar die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Beratung auf. Grundlegende Voraussetzung bei allen Beratungsschritten ist das Einverständnis der Betroffenen. Die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen stehen im Fokus der Beratung. Die spezialisierten Fachberatungsstellen bieten ein ganzheitliches Beratungsangebot, von der Erstberatung und Krisenintervention über die Begleitung während eines Gerichtsverfahrens bis zum Aufbau neuer Lebensperspektiven oder der Hilfe bei der Rückkehr ins Herkunftsland.
Unter der Fachberatungsstellensuche findet sich eine Auflistung von spezialisierten Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel, ihrer Angebote und Kontaktdaten sowie weiterer Organisationen, die zu den Themenbereichen Ausbeutung, Gewalt an Frauen, Prostitution, Flucht und Migration arbeiten. Mitgliedsorganisationen des KOK sind in der Auflistung gekennzeichnet.