BVerwG, Urteil vom 4.9.2012
Aktenzeichen 10 C 12.12

Stichpunkte

Bemerkenswertes Urteil im Verwaltungsgerichtsverfahren zur Sprachkenntniserfordernis bei Ehegattennachzug zu einem Deutschen; Einreise auch ohne Deutschkenntnisse möglich, wenn Kenntniserwerb nicht möglich, zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich; Ausführungen zur Unzumutbarkeit des Spracherwerbs; Deutscher bzw. Deutsche darf nicht auf Eheführung im Ausland verwiesen werden; Ausführungen zum Hintergrund und zur Rechtsprechung zur Sprachkenntniserfordernis bei Ehegattennachzug zu Ausländerinnen und Ausländern und zur Vereinbarkeit mit dem Schutz der Ehe aus dem Grundgesetz beziehungsweise der Europäischen Menschenrechtskonvention; Nachzug darf nicht wegen doppelter Staatsangehörigkeit des Mannes von der Sicherung des Lebensunterhalts abhängig gemacht werden.

Zusammenfassung

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hebt auf die Revision der Klägerin die Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin auf und verweist zur erneuten Verhandlung an dieses zurück.

Die Klägerin, eine afghanische Staatsangehörige, ist mit einem in Deutschland lebenden Landsmann verheiratet, der inzwischen neben der afghanischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Ihr Antrag auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem Ehemann war von der deutschen Botschaft in Kabul abgelehnt worden, da sie keine ausreichenden deutschen Sprachkenntnisse nachgewiesen habe. Ihre Klage gegen die Ablehnung wurde vom VG Berlin abgewiesen.

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass das Verwaltungsgericht verkannt hat, dass für den Ehegattennachzug zu Deutschen andere Voraussetzungen gelten als bei dem zu Ausländerinnen und Ausländern. So sind die Regelungen des § 30 Aufenthaltsgesetz zum Erfordernis von Deutschkenntnissen auf den Ehegattennachzug zu Deutschen nur entsprechend anzuwenden. Zwar setze auch ein Anspruch auf Nachzug zu einem deutschen Ehepartner grundsätzlich voraus, dass der nachziehende Ehegatte bereits vor der Einreise über geringe Deutschkenntnisse verfügt. Das sei mit dem Grundgesetz auch vereinbar, da es dem öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Zwangsehen sowie der Integration diene. Der grundgesetzliche Schutz von Ehe und Familie erfordere aber eine Interessenabwägung zwischen diesen öffentlichen Interessen und dem Interesse der Betroffenen an einem ehelichen und familiären Zusammenleben in Deutschland. Insbesondere dürfe ein Deutscher bzw. eine Deutsche nicht darauf verwiesen werden, die Ehe im Ausland zu führen. Von der ausländischen Ehepartnerin oder dem Ehepartner dürfen Bemühungen zum Spracherwerb nur verlangt werden, soweit sie zumutbar sind und einen zeitlichen Rahmen von einem Jahr nicht überschreiten. Das Gericht macht Ausführungen zur Unzumutbarkeit zum Beispiel aus persönlichen Gründen oder aufgrund der Situation im Heimatland. Ist der Erwerb der erforderlichen Deutschkenntnisse innerhalb eines Jahres nicht möglich, ist gleichwohl ein Visum zu erteilen. Die Jahresfrist muss nicht abgewartet werden, wenn von Anfang an Unzumutbarkeit besteht, zum Beispiel weil Sprachkurse nicht angeboten werden, nicht erreichbar sind oder die Teilnahme ein hohes Sicherheitsrisiko darstellen würde. Die Sprachkenntnisse müssen dann aber nach der Einreise erworben werden.
Das Verwaltungsgericht soll jetzt prüfen, ob der Klägerin das Erlernen der deutschen Sprache unter Berücksichtigung ihrer konkreten Lebensverhältnisse in Afghanistan in zumutbarer Weise innerhalb eines Jahres möglich war. Dabei sei insbesondere zu erwägen, ob der Klägerin als alleinstehender Frau zumutbar gewesen sei, ins entfernte Kabul zu ziehen, um dort einen Sprachkurs zu besuchen und ob ihr als Analphabetin innerhalb eines Jahres zunächst eine Alphabetisierung und dann der Spracherwerb überhaupt möglich gewesen wäre. Ist dies nicht der Fall, sei ihr, sofern die anderen Voraussetzungen gegeben sind, ein Visum zu erteilen. Das BVerwG hebt besonders hervor, dass die doppelte Staatsbürgerschaft des Mannes nicht dazu berechtige, den Nachzug von der Sicherung der Lebenshaltung abhängig zu machen.
Das BVerwG setzt sich auch mit der Frage auseinander, ob die Tatsache, dass ein Sprachnachweis bei Ehegattennachzug zu Deutschen verlangt wird, nicht jedoch bei dem zu in Deutschland lebenden EU-Bürgern, einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot darstellt. Es führt unter Verweis auf das Unionsrecht aus, dass das nicht der Fall sei.

Entscheidung im Volltext:

BVerwG_04_09_2012 (PDF, 89 KB, nicht barrierefrei)

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