Entscheidung im Verwaltungsgerichtsverfahren um Pflicht zur Teilnahme am Integrationskurs; Ausländerämtern steht Ermessensspielraum bei Anordnung von Integrationskursen zu; Teilnahmeverpflichtung nur bei besonderer Integrationsbedürftigkeit; umfassende Ausführungen zum Ermessensspielraum und zur `Integrationsbedürftigkeit´ im Sinne des § 44a des Aufenthaltsgesetzes; geminderte Integrationsanforderungen für AusländerInnen mit legalem Aufenthalt im Bundesgebiet bereits vor dem 01.01.2005; Verpflichtung zur Teilnahme an Integrationskurs dauerhaft nur zumutbar, wenn verhältnismäßig
Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) hebt die Verpflichtung einer 62-jährigen Türkin zur Teilnahme an einem Integrationskurs auf. Die Klägerin ist Analphabetin und verfügt nicht über einfache Deutschkenntnisse. Sie lebt seit 1981 rechtmäßig bei ihrem türkischen Ehemann in Deutschland. Der Ehemann betreibt einen Lebensmittelladen. Alle sechs Kinder des Ehepaares haben einen Schulabschluss und sind inzwischen deutsche Staatsangehörige. Die Ausländerbehörde verpflichtete die Klägerin im Januar 2011, an einem Integrationskurs mit Alphabetisierung teilzunehmen. Ihre Sprachunkenntnis hindere sie daran, sich in Gesellschaft und Erwerbsleben zu integrieren. Das Verwaltungsgericht bestätigte die Rechtmäßigkeit der Verpflichtungsverfügung.
Der VGH folgt dem jedoch nicht. Er stellt fest, dass die Verfügung schon deswegen rechtswidrig sei, weil das Amt gar nicht zu ihrem Erlass verpflichtet war. Nach dem Aufenthaltsgesetz sei ein Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtet, wenn er in besonderer Weise integrationsbedürftig sei und die Ausländerbehörde ihn zur Teilnahme am Kurs auffordere. Das Gesetz eröffne der Ausländerbehörde dabei aber ein Ermessen. Das habe das Landratsamt verkannt. Das Gericht macht umfassende Ausführungen zur Entstehungsgeschichte des § 44a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) und zum Ermessen.
Darüber hinaus sei die Verfügung aber auch rechtswidrig, weil die Klägerin nicht in besonderer Weise integrationsbedürftig sei. Das Gericht erläutert den Begriff der Integrationsbedürftigkeit und stellt fest, dass bei der Auslegung des Begriffes mit diesem zusammenhängende gesetzgeberische Grundentscheidungen zu beachten seien. Aufgrund der Übergangsregelung des § 104 des AufenthG für Ausländer, die sich - wie die Klägerin - schon vor dem 1. Januar 2005 legal in Deutschland aufgehalten haben, läge eine besondere Integrationsbedürftigkeit nur vor, wenn die Lebensführung des Ausländers dem öffentlichen Interesse an der Integration in die deutschen Lebensverhältnisse widerspreche. Das komme etwa bei Bezug von Sozialleistungen in Betracht oder wenn mangels Sprachkenntnissen keine Kontakte zum sozialen Umfeld bestünden. Das treffe hier aber nicht zu. Die Integration der Kinder sei besonders erfolgreich abgeschlossen. Die Berufsausbildung der Kinder zeige eine Lebensführung der Klägerin, die den deutschen gesellschaftlichen Vorstellungen entspreche.
Darüber hinaus sei der Klägerin eine Teilnahme am Integrationskurs aber auch nicht zuzumuten. Aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheitsgeschichte sei sie im Arbeitsmarkt nicht mehr zu vermitteln. Der Integrationskurs könne aber auch zum Ziel des Gesetzes, die Integration von Eltern zu fördern, um deren Kinder zu integrieren, nichts mehr beitragen.
Letztendlich schränke die Teilnahmepflicht die Lebensführung der Klägerin unverhältnismäßig ein. Bei dem erfahrungsgemäß zu erwartenden Stundenumfang eines Integrationskurses mit Alphabetisierung, müsste sie den Kurs etwa zwei Jahre lang 3 Stunden täglich besuchen. Das sei unverhältnismäßig.
Entscheidung im Volltext
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